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Neue Konstellationen


 
 

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Stupender Mix

Das Berliner Sommerfestival Foreign Affairs, das in diesem Jahr von Ende Juni bis Mitte Juli läuft, ist ein junges Festival. Jung nicht nur deshalb, weil es erst zum dritten Mal stattfindet, sondern weil anstelle der etablierten Künste, wie beim Theatertreffen oder dem Musikfest, spartenübergreifende Alternativformen im Mittelpunkt stehen. Immer stärker kreuzen sich darstellende, musikalische, performative und bildende Kunstgattungen und verbinden sich zu neuen Kreationen.

Der französische Tänzer und Choreograf Boris Charmatz ist so ein Künstler, der neue Wege erforschen will. Sein in Rennes beheimatetes Projekt Musée de la danse steht – neben den zwei weiteren Schwerpunkten Performing Pop und Empowerment – im Fokus der diesjährigen Foreign Affairs. Es ist eine nach allen Seiten offene Institution, Ausstellungsort, Begegnungsstätte und Ausgangspunkt für überregional verwirklichte Konzepte zugleich. Fragen, wie ein Museum des Tanzes aussehen könnte, ob diese flüchtige Gattung überhaupt zu konservieren ist und wie ein Austausch mit Kooperationspartnern aussehen kann, bestimmen Charmatz’ Arbeiten sowohl auf der Bühne als auch in der theoretischen Vertiefung mit Kollegen und Wissenschaftlern. Mögliche Antworten gibt Expo Zéro, eine performative Ausstellung in den leeren Räumen der Kunstsäle Berlin. Hier stellen sich nach mehrtägiger Klausur Charmatz und neun Kollegen dem Publikum. In kleinen Tanzeinlagen, Improvisationen und Dialogen wird das Publikum in die Diskussionsergebnisse mit einbezogen, woraus sich eine fast intime Beziehung zwischen den Künstlern und den Besuchern entwickelt. Dennoch wirkt das Happening teilweise abgehoben und verkopft, regt freilich auch zum Nachdenken und Assoziieren an. Ohne das geht es bei Charmatz’ Choreografien sowieso nicht. Viele von ihnen sind radikal, extrem und sperrig. Beispielsweise das im Kirchenraum der ehemaligen St.-Agnes-Gemeinde gezeigte Trio Aatt enen Tionon, eines seiner frühesten Werke aus dem Jahr 1996. Auf einem dreistöckigen Gerüst führen Lénio Kaklea, Matthieu Burner und Charmatz selber, den Unterkörper entblößt und nur mit einem engen weißen T-Shirt bekleidet, jeder für sich kraftvolle, aggressive Soli aus. Einen Bezug zwischen ihnen wird allein durch die Geräusche, die sie erzeugen, hergestellt. Das ist getanzter Autismus, der verstört und beim Betrachter Ratlosigkeit hinterlässt. Noch sinnfreier und eigenwilliger verfährt Charmatz bei seiner im Martin-Gropius-Bau gezeigten Performance-Installation Héâtre-Élévision. Nur jeweils ein Zuschauer wird in einen Raum mit einer Pritsche eingelassen, auf der er liegend ein 45-minütiges Video mit einer Reihe mal kindlicher, mal obszöner Spielanordnungen anschaut. Dazwischen gibt es kleine Licht- und Akustikeffekte, bis ein Testbild erscheint und die Performance beendet ist. Was bleibt, ist Irritation und Ermüdung.

Die Fragen nach dem Unbekannten

Dabei kann Charmatz auch anders, wie die fulminante Eröffnung an einem besonderen Ort beweist: am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park lässt er 20 Dancers for the XX Century mit jeweils einem Solo aus der Tanzgeschichte ihre Visitenkarte abgeben. Bereits zum dritten Mal, denn das Projekt gab es schon im Museum of Modern Arts in New York und in einer Bibliothek in Rennes. Nun also in Berlin, wo es im Vorfeld noch Schwierigkeiten mit den Behörden gab, ob die Würde des Ehrenmals durch die Darbietungen gestört werden würde. Am Ende der drei Stunden fühlen sich die Zuschauer, darunter auch viele Zufallsspaziergänger, inspiriert und verbunden mit diesen Tänzern, die sichtbar Spaß an der ungewohnten Aufgabe haben, die Stücke erst zu erklären und danach vorzuführen. Fünf Tage später im Festspielhaus meint man, bei Charmatz’ 2010 uraufgeführten Levée des Conflits mit fast dem gleichen Ensemble alte Bekannte vor sich zu haben. Sie sitzen im Parkett und stürmen nacheinander auf die Bühne, um 25 gleiche Bewegungsabfolgen auszuführen. Vom ersten konzentrierten Auftritt einer Solistin steigert sich die Choreografie zu einem chaotischen Gewimmel, das allmählich wieder abschwillt, bis am Ende ein Akteur nach dem anderen das Podium verlässt und es nach dem Wirrwarr wieder ruhig und leer wird. Sind nun die entstandenen Konflikte bewältigt?

Experimente sind kein Verzicht auf Magie

Gegenüber dieser abstrakten Bewegungskomposition von Charmatz ist die jüngste Arbeit von Hofesh Schechter ein sinnliches, magisch schönes Vergnügen mit erkennbar rotem Faden. Dabei erzählt der israelische Choreograf, der mit seiner gleichnamigen Company im Festspielhaus gastiert, in seiner letztes Jahr uraufgeführten Produktion Sun von schlimmen Dingen, von Unterdrückung, Demagogie und Gewalt. Aus einer scheinbaren Idylle entwickelt sich ein Spiel von Verfolgung und Macht. Die Bühne ist sonnendurchflutet, das Ensemble weiß gekleidet, die Choreografie gibt sich mit folkloristischen und höfisch-zeremoniellen Sequenzen betont licht und leicht. Doch dann kippt die Stimmung. Manche Tänzer werden zu Gejagten, andere zu Häschern, wobei die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verwischen. Einige tragen Pappschilder mit Schafs- und Wolfsköpfen vor dem Gesicht, sie hetzen, marschieren mit militärischem Drill, prügeln aufeinander ein. Und dennoch ist man gefangen von der Energie und Vitalität der Company. Shechter ist dem Thema zum Trotz ein hoch ästhetisches Tanzstück gelungen, das durch die Bilderkraft und visuelle Intensität überwältigt und dementsprechend vom Publikum mit Riesenbeifall honoriert wird.

Auseinandersetzung mit der Gesellschaft

Mit gänzlich anderen künstlerischen Mitteln äußert sich die polnische Regisseurin Marta Górnicka in ihren beiden, im Rahmen des Focus Empowerment gezeigten beiden Arbeiten zu gesellschaftlichen Zuständen. Sie hat für sich die Kraft des Chores entdeckt. Nicht als traditionelle Gesangsgruppe, sondern als starke Menschenmenge, die durch mannigfaltige vokale Ausdrucksformen, in der Gesamtheit oder individuell, auf Verhältnisse aufmerksam machen will. Im Fall von Magnificat, bei dem nur weibliche Choristen auftreten, auf die Rolle der Frau in Polen in Bezug auf Familie und Kirche. Es gibt herrliche Szenen voll Humor und solche voll energischer Angriffslust. Im anderen, ähnlich konzipierten Stück Requiemaszyna sind auch Männer dabei, und es geht um schwierige Arbeitsbedingungen und Arbeitslosigkeit. Die meisten Mitwirkenden sind Laiendarsteller, die sich mit Hingabe die Sprachkompositionen von Górnicka angeeignet haben und mit einer stupenden Synchronität, pulsierender Rhythmik und präzis getimten Körperaktionen überraschen. Górnicka selber dirigiert von der Zuschauertribüne aus, und ihre Begeisterung überträgt sich in jedem Moment.

Foreign Affairs locken mit über zwanzig Veranstaltungen ein neugieriges, aufgeschlossenes Publikum an. Vielfältige Angebote, wie Workshops und Symposien, ergänzen die Vorstellungen, während ein Street Food Market rund um das Festspielhaus und sogar ein Bildschirm für die Fußballbegeisterten im Garten für entspannte Stimmung sorgen. Und die macht einen großen Reiz dieses Festivals aus.

Karin Coper, 18.7.2014

 


Zum dritten Mal finden in diesem Jahr
die Foreign Affairs statt. Ein junges
Festival im doppelten Wortsinn, das
neue Verbindungen herstellen möchte.


Neue Wege wollen auch 20 Tänzer im
Dialog mit ihrem Publikum finden.
Eines von vielen Projekten, die das
Festival prägen.


Es ist nicht notwendig, jede
Performance zu verstehen. Viele laden
weniger zu Erzählungen als zu
Assoziationen ein
.


Tanz als Kunstform will sich
idealerweise auch mit Gesellschaft
auseinandersetzen. Foreign Affairs
bietet viel Raum dazu.


Wenige Botschaften, viele Fragen:
Eine gute Strategie für ein Festival,
das sich dem Neuen verschrieben hat.