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Mai 2011


 
 

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Abgründe hinter der scheinbaren Normalität

„Die Sänger, die Schauspieler, die Instrumentalisten, sie leisten Unglaubliches“, sagt der Komponist Georg Friedrich Haas über die Interpreten seiner neuen Oper „Bluthaus“, die am 29. April bei den Schwetzinger Festspielen eine zwiespältig aufgenommene Uraufführung erlebte. Denn der österreichische Komponist und sein Librettist Händl Klaus erzählen nicht nur eine dunkle, leider höchst aktuelle Geschichte um Missbrauch und Inzest, was dem „normalen“ Opern-Kostgänger einiges abverlangt, viel mehr noch stellt Haas dafür eine äußerst komplexe, durchdachte und von Affekten gesättigte Musik zur Verfügung. Auch die will erst einmal mitgedacht, mitgefühlt und mitvollzogen werden.
Das Auftragswerk des SWR hebt ganz banal an, denn eine Immobile soll verkauft werden. Langsam enthüllt sich ein dunkles Geheimnis, das in jenem Haus sich ereignet hat. „Wenn man die Diskussionen zum Thema Missbrauch verfolgt, wird man feststellen, dass die Opfer durch das Zerren in die Öffentlichkeit nochmals missbraucht werden“, so Haas im Gespräch. Die einzige Möglichkeit, Opfern eine Stimme zu geben, sei die Kunst. Im Falle von Bluthaus ist es Nadja, die an ihren seelischen Narben und Verletzungen leidet; obwohl sie gegen den Schmerz, den ihr der eigene Vater zugefügt hatte, mit großer Energie ankämpft, wird sie am Schluss aufgeben. Die Kraft versiegt, Nadja sieht keinen Ausweg und demoliert ihr Haus, das sie eigentlich verkaufen wollte. Doch die Missgunst der Nachbarn und deren klatschsüchtige Erzählungen verprellen jeden Interessenten.
Wie kam dieses Projekt für die Schwetzinger Festspiele zustande? Opernchef Georges Delnon hat Komponist und Librettist zusammengebracht. Georg Friedrich Haas empfindet das als außerordentlichen Glücksfall, weil er den Text von Händl Klaus als sprachlich intensiven Wurf empfindet, der ihn sofort ansprach. Über eine zuerst traditionell aufgebaute Handlung („mit geringen Änderungen könnte da ein wunderbares Fernsehspiel entstehen“) entwickelt sich ein großer Sog, der Abgründe öffnet. Die Sachbearbeiterin der Bank, der Makler, die ganz „normalen“ Nachbarn, die Hauptfigur Nadja; die Interessenten kommen, alle sind begeistert, plötzlich gerät alles ins Stocken. Das Grauen wird erahnt, es konkretisiert sich im Rückblick. „Doch diese Menschen sind keine Monster“, so Haas, denn das scheinbar Normale ist das Abnormale, und die Tradition des Wegschauens gehört zur Normalität.

Wir plaudern auf der weißen Bank, Schloss Schwetzingen und der prächtige Park gefallen sich im milden Sonnenschein, im Gegensatz zur Bluthaus-Atmosphäre. Georg Friedrich Haas nimmt sich Zeit, trotz Probenstress. Haas gilt als Vertreter der „Mikrotonalität“ und ihm wird das „Aufbrechen des zwölftönigen Systems“ zugeordnet, als ob dies etwas Besonderes sei, auch überschreite dieser Komponist „Grenzen konventioneller Wahrnehmung“. Haas wirkt leicht irritiert. Denn wer seine Umgebung bewusst wahrnehme, erlebe doch permanent „Mikrotonalität“, oder gleitende Übergänge des breiten akustischen Spektrums.
Die Oper (etwa 106 Minuten Dauer, ohne Pause gespielt) erzeugt einen großen Sog. Georg Friedrich Haas folgt seinem Grundsatz, „je grauenvoller die Geschichte, desto schöner die Musik“, bis hin zu traditionellen Akkorden. Natürlich trifft er auch mit Clustern die Erwartungen an eine „moderne Oper“, aber er setzt vielfältige Mittel souverän und gezielt ein, bis hin zur Illusion ständig fallender und steigender Klänge. Die Besetzung ist dem Aufführungsort angepasst, denn der Orchestergraben im Rokokotheater ist sehr beengt. Was die Grenzen der Wahrnehmung anbelangt hat Georg Friedrich Haas eine klare Meinung: „Ein Künstler, der nicht versucht, Grenzen zu überschreiten, ist keiner. Jeder hat das versucht und versucht es weiter.“
Georg Friedrich Haas ist Komponist, Dozent, Musikwissenschaftler und Musikessayist, unter anderem hat er sich intensiv mit Pierre Boulez beschäftigt. „Die Wissenschaft kommt momentan zu kurz.“ Vor Jahren wurde ihm der große österreichische Staatspreis verliehen. Haas kennt natürlich die wütenden Betrachtungen von Thomas Bernhard wegen dessen Vergabepraxis. „Ich konnte mich dennoch darüber freuen, denn ich weiß, wer mich vorgeschlagen hat. Von einem FPÖ-Minister hätte ich ihn allerdings nicht angenommen“.
Bluthaus ist sehr komplex geschrieben: „Meine Begeisterung für die Sängerinnen und Sänger, für die Schauspieler und das Orchester unter Stefan Blunier liegt mir am Herzen. Und das Publikum soll einfach einsteigen und bis zum Ende mitfahren. Über so blödsinnige Dinge wie Mikrotonalität braucht es sich nicht den Kopf zu zerbrechen.“ Was kommt als nächstes? Ein Streichquartett, das siebte im Schaffen von Georg Friedrich Haas.

Eckhard Britsch