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KOMMENTAR

Juni 2015


 


 

zurück       Leserbrief

Zahlen sind keine Kunst

Die Spielzeit ist noch nicht ganz zu Ende, da prasseln schon die ersten Rechtfertigungszahlen aus den Theatern und Opernhäusern. Eine der Lieblingsgrößen derjenigen, die glauben, ihre künstlerischen Erfolge ökonomisch belegen zu müssen: die Auslastung. Doch das ist dünnes Eis.

Im Streit um die Finanzierung und eine inzwischen vom Oberbürgermeister und dem Kultusminister verabredete Zielvereinbarung zur weiterhin unklaren Zukunft des Volkstheaters Rostock titelte die Ostsee-Zeitung „… plumpe Zahlenspiele“ und meinte damit die Spielchen, die die Theaterleitung und Kultusminister Mathias Brodkorb miteinander trieben: Es ging um die seit Jahren rückläufigen Zuschauerzahlen im Rostocker Haus, das man auch eine Baracke nennen könnte, so marode ist es – wirklich alles andere als einladend. Dagegen rechnet die Theaterleitung dem Kultusminister einen Gewinn von knapp einer Million Euro vor – und beste Auslastungsquoten – und muss trotz Zielvereinbarung die Spielstätte Theater im Stadthafen und möglicherweise zwei Sparten des Hauses schließen. Und immer wieder das gleiche Argument aus der Politik: Das Volkstheater hat eine zu geringe Auslastungsquote. Aha.

In diesen Tagen präsentiert der Intendant der Ruhrfestspiele, Frank Hoffmann, die Zahlen der diesjährigen 69. Ruhrfestspiele: Zu den 107 Produktionen zum thematischen Schwerpunkt Frankreich kamen in gut 300 Aufführungen 81300 Besucher. Das entspricht einer – Achtung, da ist sie! –  Auslastung von 80,6 Prozent der verfügbaren Plätze. Viel oder wenig, Rekord oder Minimum, konkurrenzfähig oder nicht? Natürlich bezieht sich diese Durchschnittszahl auf die Zahl der verkauften Karten an allen Spielorten, also dem Festspielhaus, dem Kleinen Haus, dem Theater Marl, der Halle König-Ludwig 1/2, dem Theaterzelt vor dem Festspielhaus, dem Fringe-Zelt im Stadtgarten, der Vestlandhalle in Herten und an sechs weiteren Spielorten wie etwa der Gaststätte „Zum Drübbelken“. Im Schnitt 80,6 Prozent, ob Ute Lemper, Michel Piccoli oder der urkomische Artistik-Abend der Schweizer Pessi und Fassari.

Natürlich ist diese Zahl ein Durchschnittswert, der unter anderem die Ehren- und Pressekarten mit berücksichtigt. In der Branche gelten Werte zwischen 70 und 80 Prozent als „normal“, nahe 80 Prozent schon als recht ordentlich, darüberhinaus als bemerkenswert. Dass bestimmte Stücke und Sparten wie beispielsweise Ballettaufführungen, Kindervorstellungen und klassische Musicals auch diese Werte reißen und die 100 Prozent erreichen, versteht sich von selbst. Und doch: was bedeuten sie im Detail, diese Statistiken? Man muss immer mehrmals hinschauen und nachfragen. Was sagt die „Produktionsgröße“ von 80 Prozent Besuchern über die „Leistung“ eines Theaters oder eines Orchesters?

Die Ruhrfestspiele sind ein Festival, das über sechs Wochen läuft. Ein eigenes Ensemble hat Recklinghausen nicht, ebenso wenig wie das benachbarte Marl. Ganz anders als das große Vier-Sparten-Haus in Gelsenkirchen oder die kleine, aber feine Privatbühne in Mülheim an der Ruhr. Sie alle genau so zu „messen“ wie die Bayreuther Festspiele, die Jahre im Voraus „ausverkauft“ waren – wer immer das auch bezahlte – oder die Bregenzer Festspiele, die zu einem Touristen-Theater mutiert sind? Das ist einfach unmöglich! Und die Auslastungsquote für vier, sechs oder acht Wochen oder eine ganze Spielzeit? Womit kann man, sollte man sie vergleichen, womit darf man sie eben nicht vergleichen? Zum Beispiel sicher nicht mit dem Landestheater in Parchim, dem Wilmink-Theater, einem Gastspielhaus in Enschede, auch nicht mit den großen Häusern in Wien, Salzburg oder Zürich. Selbst die benachbarten Häuser in Gelsenkirchen und Essen, beide im Herzen des Ruhrgebiets, unterscheiden sich erheblich in der Struktur der Zuschauer, dem Umland und ihrem künstlerischen Zuschnitt. Besucherzahl ist gleich Stückzahl der Produktion ist gleich Leistung?

Also muss man fragen, was eigentlich die Zahlen bedeuten, die der Deutsche Bühnenverein alle zwei Jahre als statistische Quintessenz der deutschen Theater und Orchester zusammen trägt und veröffentlicht. Was bedeutet es, wenn Sachsen-Anhalt 60 Prozent Vollpreiskarten und 4,8 Prozent Freikarten vermeldet, das Saarland dagegen nur knapp 29 Prozent Karten verkauft und 6 Prozent Freikarten vergibt? Sachsen lässt sich sein Theater-Leitungspersonal rund 18 Millionen Euro kosten, in Schleswig-Holstein müssen knapp 1,1 Millionen reichen. In Bayern gehen 87 Prozent der Plätze bei Opernaufführungen an das heimische Publikum, in Sachsen-Anhalt sind es nur 55,5 Prozent; die Bayern spielen 22,6 Prozent ihrer Kosten ein, Sachsen- Anhalt schafft gerade mal 11,5 Prozent.

Nimmt man einmal die Besucherquoten der Opern als Messzahl, taucht sofort die Frage auf: Wie sieht´s im Musical aus, wie beim Schauspiel, beim Kindertheater? Wie ist die Konkurrenzsituation in Berlin im Vergleich zum benachbarten Mecklenburg-Vorpommern? Bei wie vielen Vorstellungen erreicht ein Stadt-, ein Landestheater, eine kleine Privatbühne die Auslastungsquote von über 80 Prozent? Was hat die Auslastungsquote mit der Bevölkerungsdichte etwa in Nordrhein-Westfalen oder in Niedersachsen zu tun? Ist es wirklich eine Hilfe, wenn ein Haus die Zahl seiner Aufführungen reduziert, um zu einer „höheren“ Auslastungsquote zu kommen und damit zu „punkten“? Mit solch vorauseilendem Gehorsam den Finanziers gegenüber lügen sich die Theaterleitungen und die Stadträte in die eigene Tasche. Sie folgen unnötig und ohne Selbstbewusstsein der „Durchökonomisierung“ des Kunst- und Kultussektors – zu ihrem eigenen Schaden. Natürlich gibt es noch andere Tricks, um die Quote nach oben zu frisieren: Ein „volkstümliches“ Programm, das Engagement von „Stars“, eine geschickte Mischung der Genres, die rasche Dramatisierung eines Bestsellers …

Und dann fragen die Kultus- und Bildungsminister nach der Auslastungsquote, fragen Stadträte und -kämmerer nach Besucherzahlen und setzen Stückzahlen der Besucher mit Leistung gleich? Als wären Theateraufführungen oder Konzerte zählbar wie Joghurtbecher oder Küchenhocker. Kein Mensch fragt nach dem Preis für ein Auto, ohne nicht gleichzeitig nach Leistung, Ausstattung, Komfort und laufenden Kosten zu fragen. Der Vergleich der künstlerischen Leistungen eines Theaters, eines Orchesters mit der eines anderen Hauses ist selbst eine künstlerische, kaum eine Rechenaufgabe. Eine Auslastungsquote ohne die Rahmenbedingungen und künstlerischen Zielideen: ein Witz, ein schlechter dazu.

Horst Dichanz, 19.6.2015

Kommentare geben die persönliche Meinung der Verfasserin oder
des Verfassers, aber nicht in jedem Fall die Auffassung von Opernnetz wieder.


Zahlen sagen gar nichts über die
künstlerische Leistung eines Hauses
aus. In Rostock hat man versucht,
über Zahlen zu argumentieren - und
verloren.


Die Ruhrfestspiele protzen mit hohen
Auslastungen - im Ruhrfestspielhaus
wie in der Gaststätte. Über den
künstlerischen Erfolg und die
Nachhaltigkeit sagt das gar nichts.


Das niederländische Wilmink-Theater
erfreut sich größter Beliebtheit, wenn
man den Zahlen glaubt. In der
Zwischenzeit gehen dem Land die
Orchester flöten, weil sie weggespart
werden.


„Wir brauchen mehr Liquidität“, sagte
ein früherer Intendant der Kölner Oper
und ordnete My Fair Lady an. Es
funktionierte. „Pimp up my theatre“
wird immer beliebter - und da helfen,
scheint's, Zahlenspiele.