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KOMMENTAR

November 2013


 


 

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Der Zauberer

Verdi hat uns einige der wichtigsten Opernmelodien geschenkt. Vielleicht hören wir nicht mehr so recht zu, aber bis heute weist er uns den Weg – im Zweifelsfall mit einem einzigen Lied. In Rom haben wir es erlebt.

Bereits vor zwei Jahren dirigierte Ricardo Muti, als Dirigent so eine Art Nationalheld in Italien, in Rom eine Neuinszenierung von Nabucco. Die Inszenierung – geschenkt. Italienisch bis zum Umfallen. Dieses Stehtheater, in dem nur beklatscht wird, wer sich nicht zuerst bewegt, in altertümlichen Kostümen, ist so zeitgemäß wie eine Bonbonniere in zartrosa. Und daran werden auch die Opernfetischisten nichts ändern, die bei jeder Bewegung gleich ein „Vergogna“ auf den Lippen haben. Es ist keine Schande, intelligentes Regietheater auf die Bühne zu bringen. Und das hört nicht da auf, wo die Bewegung beginnt. Dann kommt das, worauf alle bei Nabucco warten: Der Gefangenenchor setzt zum Va, pensiero an. Die abgebrühten, so genannten Opernfans gehen darüber hinweg. Schließlich fliegen die Gedanken solch kulturell begabter Menschen doch immer, hat man es so oft gehört, dass es nun wirklich langweilig ist. Und so singt der Chor es auch. Pflichtbewusst, weil ein italienischer Chor weiß, was er seinem Publikum schuldig ist, aber mehr auch nicht. Die heimliche Nationalhymne Italiens, das Lied, das einst eine Nation einte, das Verdi wider Willen zum Freiheitskämpfer erkor. Ich sehe es deutlich vor mir – so wird es kolportiert – wie der Begräbniszug hinter Verdis Sarg Va, pensiero anstimmt. Die Gedanken sind frei, die Vision besiegt das Elend. Wir werden ein Volk.

Haben die Italiener – und nicht nur die – das alles vergessen? Ist es wirklich nur noch der schnöde Mammon, der von einigen wenigen zum Herrscher der Welt erklärt wird? Muti lehnt sich zurück, während der Chor in Rom obligat beklatscht wird, einige eine Wiederholung fordern, wie sich das seit nahezu zweihundert Jahren in Italien gehört, wenn Nabucco aufgeführt wird. Muti wartet entspannt, bis Ruhe im Teatro dell’Opera Roma einkehrt. Er erklärt sich bereit, den Chor das Lied noch einmal singen zu lassen, wenn die Italiener bereit sind zu verstehen, dass Va, pensiero längst nicht mehr nur ein Land, sondern die ganze Welt betrifft. Und er werde es nur wiederholen, wenn das Publikum mitsänge. Da stockt für einen Moment der Atem. Die Logen werden hintergründig illuminiert. Und du siehst, wie das Publikum sich erhebt. Es kommt dir so vor, als habe ein Dirigent noch nie so deutlich seine Sänger mit seinen beiden Händen instruiert wie Muti in diesen Minuten. Und es will dir scheinen, als ob sich der Geist auf seinen Flügeln über die Welt emporschwingt, die Idee der Freiheit in die entlegensten Winkel der Welt bringt. Es geht nicht um die Einheit Italiens, sondern um nichts weniger als die Einheit der Welt.

So wird ein „oller Opernschlager“ ganz plötzlich in dem römischen Opernhaus wieder Sinnbild für eine bessere Welt, für die Ideale, die uns vor langer Zeit so viel bedeutet haben, die uns heute allenfalls in schlauen Reden noch einmal als Worthülsen begegnen. Die Tränen in den Augen der Choristen verraten uns alles: Die Sehnsucht, mehr denn je unerfüllt, die Erschöpfung im schier unendlichen Kampf und die Freude darüber, wenigstens noch einmal darüber gesungen zu haben, was uns erfüllt hat, bevor wir uns nur noch darum gekümmert haben, einem Hilfsmittel hinterher zu laufen, das für die Regierungen inzwischen wichtiger als die Menschen geworden ist.

Danach geht es in der Oper ungerührt weiter, als sei nichts geschehen. Aber für wenige Momente ist da was passiert. Etwas, das weit über eine Opernaufführung hinausgeht. Das kann Oper. Und wenn sich die „Macher“ wieder darauf besinnen, die Komponisten, Regisseure und Intendanten, wird es wieder eine Oper geben, die sich gegen Zensur, Unterdrückung und Verdummung auflehnt, für eine Gerechtigkeit kämpft, mit einfachen Mitteln. Wenn Giuseppe Verdi das nach 200 Jahren schafft, ist noch Hoffnung.

Michael S. Zerban, 5.11.2013

Kommentare geben die persönliche Meinung der Verfasserin oder
des Verfassers, aber nicht in jedem Fall die Auffassung von Opernnetz wieder.


Die Oper Nabucco von Giuseppe Verdi
wurde 1842 an der Mailänder Scala
uraufgeführt. 2011 schuf Jean-Paul
Scarpitta die Neuinszenierung in Rom.


„Entscheidend soll der Zusammenprall
der Figuren sein, nicht der biblische
Kontext“, erklärt Scarpitta seine Regie,
die Bewegung so gut wie nicht vorsieht.


Die Lage der Geknechteten, das
Gegeneinander der Mächtigen und die
im Volk aufkeimende Hoffnung macht
die Oper für Riccardo Muti so wichtig.


Es gibt wohl kaum ein stärkeres
Symbol für die Freiheit und die
Einigung Italiens. Ein Symbol nur für
Italien?


Riccardo Muti lässt den Gefangenen-
Chor noch einmal antreten – um
gemeinsam mit dem Publikum zu
singen.

Fotos: Silvia Lelli