Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

KOMMENTAR

Mai 2014


 


 

zurück       Leserbrief

Starke Sprüche

Der Kulturjournalismus ist obsolet. Die neuen Techniken erlauben eine ganz andere Form der Kommunikation. Und die Expertise ist sowieso ein vollkommen überholter Standort. Mit markigen Sprüchen äußerte Barrie Kosky im April seine Unkenntnis von der Funktion des Journalismus.

Manchmal werden Menschen ermordet. Nicht auf der Bühne. Sondern wirklich und wahrhaftig. So geschehen etwa am Freitag, 28. April dieses Jahres. Yanqing T. fühlte sich von seinen Anwälten schlecht beraten und trat einen regelrechten Rachefeldzug an. Während ein Sondereinsatzkommando der Polizei die Lage nach dem Überfall einer Rechtsanwaltskanzlei in Düsseldorf zu klären versuchte, war der Täter längst auf dem Weg in den benachbarten Ort Erkrath, um dort eine weitere Kanzlei heimzusuchen. Der scheinbare Idealfall für eine überregionale Tageszeitung, sich mittels moderner Techniken zu profilieren: Die Zeitung richtete eine Art Online-Tagebuch ein, in dem sie nahezu minütlich von den weiteren Entwicklungen „berichtete“. Falschmeldungen, Fehleinschätzungen, permanente Wiederholungen und selten eine Neuigkeit waren da zu lesen. Das brachte Klicks, aber keine Erkenntnisse – weder für die Journalisten, Polizisten noch die Leserschaft. Am Mittwoch, 5. März, erschien online ein Artikel, der die Geschichte endlich einigermaßen im Zusammenhang erzählte; dann allerdings überwog der Konjunktiv. Die Moral dieser und vieler ähnlicher Geschichten: Es entbehrt jeden Sinns, aus einer unklaren Nachrichtenlage heraus etwas erzählen zu wollen. Auch wenn Unternehmen wie Twitter oder Facebook etwas anderes suggerieren – und sich Besserwisser davon beeindrucken lassen.

„Das deutsche Feuilleton hat im 21. Jahrhundert ein riesengroßes Problem“, erklärt Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. „Die Idee, dass jemand mit der Autorität des Experten schreibt, ist out. Das akzeptieren vor allem die jüngeren Menschen nicht mehr“, fährt Kosky fort. Und er erklärt auch gleich, warum das seiner Meinung nach so ist. „Sie warten nicht, bis am übernächsten Tag eine Rezension erscheint. Sie twittern schon in der Opernpause an ihre Freunde.“ Vermutlich hat das deutsche Feuilleton viel mehr Probleme als das seiner Überheblichkeit, aber die hängen sicher nicht damit zusammen, dass ein paar junge Leute in der Opernpause twittern. Und wenn es den Heranwachsenden gelingt, andere junge Menschen mit ihren Kurznachrichten für die Oper zu begeistern, ist das für die Feuilletonisten mehr Grund zur Freude als zum Ärgernis. An der Funktion des Kulturjournalismus ändert das sicher nichts. Im Gegenteil. Wenn Koskys Behauptung stimmte, dass die Autorität des Experten out sei, sollte das nicht nur die Feuilletonisten alarmieren, sondern vor allem die Kulturschaffenden. Auch wenn viele von ihnen nicht verstehen, dass sie überhaupt nur deshalb weiter existieren, weil über sie berichtet und ihnen damit eine gesellschaftliche Relevanz eingeräumt wird. Für Intendant Kosky gäbe es wohl ein übles Erwachen, wenn über seine Aufführungen weder lokal noch überregional von erfahrenen Kulturjournalisten berichtet werden würde. Lieber Herr Kosky, auch für das Theater gilt der alte Leitspruch: 256-Zeichen-Kommunikation funktioniert nicht.

Im selben Interview versteigt der Intendant sich gar gleich noch zu Verbesserungsvorschlägen. Man solle sich doch bloß mal die angelsächsischen Länder anschauen. „In England oder Amerika haben alle Kulturjournalisten einen eigenen Blog, sie unterhalten sich mit dem Publikum. Das ist fantastisch, absolut interactive“, sagt er. Die irrige Annahme eines, der etwas vom Theater, aber sicher nichts vom Journalismus versteht. Die Funktion des Kulturjournalismus, kulturelle Ereignisse hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen, zukünftigen oder historischen Relevanz einzuordnen, lässt sich nicht durch Plaudereien ersetzen. Und schon gar nicht durch „Geschnattere“, auch wenn solche Äußerungen sicher im Mainstream der Meinungen oberflächlich gefallen. Wer aus einer unübersichtlichen Nachrichtenlage heraus berichtet, siehe oben, wird keine zuverlässigen Befunde liefern. Und wer allen Ernstes glaubt, sich vor dem Ende einer Aufführung schon über deren Wirkung oder Relevanz äußern zu können, sollte es besser gleich lassen, weil er oder sie ganz sicher auch nach der Aufführung noch nichts verstanden haben wird.

Wenn Kosky einem solchen „Plaudertaschen-Journalismus“ Vorschub leistet, erweist er nicht nur seinem Institut einen Bärendienst. In erster Linie hat er damit den Blick auf die Diskussion verstellt, ob die abgehobenen Feuilleton-Ausschweifungen der herkömmlichen Print-Erzeugnisse noch zeitgemäß sind und in welcher Richtung sich Kulturberichterstattung in Deutschland weiter entwickeln kann oder muss. Manchmal reichen markige Sprüche eines Intendanten nicht, auch wenn sie von ihm erwartet werden. Bis heute weiß die Öffentlichkeit nicht, was Yanqing T., einen unauffälligen Koch, zu seinen Bluttaten getrieben hat. Die Zauberflöte in der Inszenierung von Barrie Kosky hat es zu weltweiter Bekanntheit gebracht.

Michael S. Zerban, 5.5.2014

Kommentare geben die persönliche Meinung der Verfasserin oder
des Verfassers, aber nicht in jedem Fall die Auffassung von Opernnetz wieder.


Barrie Kosky ist Intendant der
Komischen Oper Berlin und hat als
solcher eine dezidierte Meinung zum
Feuilleton.


Castor und Pollux ist das neueste
Projekt von Kosky. Darauf sind sicher
schon alle gespannt, weil er sich
inzwischen einen Ruf erarbeitet hat.


Mit der Zauberflöte gelang Kosky der
Durchbruch an der Komischen Oper.
Das Stück wurde auch an der
Deutschen Oper am Rhein gezeigt.


Ein weiterer Erfolg von Kosky war die
West Side Story. Ein Erfolg wurde es,
weil Kulturjournalisten darüber
berichtet haben.