Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

KOMMENTAR

August 2014


 


 

zurück       Leserbrief

Das Orchester im Jackett

Es muss nicht die Partnerin, der Betrieb oder der Vorsitzende sein, wenn demnächst das Handy am Strand oder beim Wandern auf dem Jakobsweg klingelt – nein, die Berliner Philharmoniker melden sich mit ihrem monatlichen Konzert, das dem Abonnenten über seine App bis in die Hosentasche zugeschickt wird. Kultur total zum Schnäppchenpreis ist nur scheinbar ein Gewinn für alle Beteiligten.

Seit kurzem bieten die Berliner Philharmoniker eine App an, über die Musikinteressierte und Liebhaber allmonatlich die neuesten Konzerte dieses renommierten Orchesters auf Smartphone, Tablet oder Computer geschickt bekommen. „Machen Sie Ihr Zuhause zum Konzertsaal!“ So können sie diesem Orchester in der Badewanne, am Sonnenstrand oder bei langweiliger Routinearbeit zuhören, für nur 14,90 Euro pro Monat, 149 Euro pro Jahr. Und dafür bieten die Berliner bis zu 40 Konzerte als Direktübertragung oder auf Abruf nach Hause. Mit Simon Rattle am Pult zeigt ein Trailer Ausschnitte aus einem Mahler- und Beethovenkonzert, das Programm reicht von Bernstein bis Wagner und Weber. Welch ein Angebot, welch eine Chance , mit Simon Rattle zu Hause zu frühstücken und dabei die Berliner Philharmoniker zu sehen und zu hören. Ein Fortschritt, ein Beitrag zu unserer kaum noch im Steigen begriffenen musikalischen Bildung, über den man sich doch nur freuen kann? Und das Orchester, die Musiker erhalten doch auch ihren Anteil an den auf diesem Wege eingespielten Tantiemen. Allerdings gibt es nach Auskunft der Deutschen Orchester-Vereinigung und der Gewerkschaft Verdi bis jetzt noch keine Tarifvereinbarungen über den Musikeranteil. Wegen der schwierigen Gesellschafterlage dauern die hausinternen Verhandlungen noch an. Immerhin, der Break-even-Point soll überwunden sein, es trage sich.

Eine durchweg positive Marketingidee also? Einerseits ja – andererseits: Wie weit soll die Durchdigitalisierung und Ökonomisierung des Kultursektors, ja, unserer Gesellschaft noch gehen? Auf Büchermärkten und Schallplattenbörsen kann man den Übergang vom Realen zum Digitalen, von Liebhaberstücken zur Internetkonserve schon heute beobachten: gediegene Bücher – Altpapier, alte LPs – wohin mit dem Schrott? Und macht das Orchester im Jackett, auf dem MP3-Player oder dem CD-Player nicht letzten Endes den Konzertsaal überflüssig? Musik aus dem Internet ist heute schon genau so Wirklichkeit wie die neueste Aufführung der Met im Cineplex oder der Blockbuster im Speisewagen eines ICE. Kein Radio- oder Fernsehprogramm, das nicht als Livestream oder „on demand“ zu empfangen ist. Wir sind längst vernetzt, auch musikalisch, von Youtube und anderen Musikbörsen ganz zu schweigen. Schon heute können wir fast alles fast überall bekommen, die Ware Kultur ist fast überall verfügbar – und damit auch wir selbst.

Das Angebot der Berliner Philharmoniker hat etwas von Fischstäbchen und den Billig-T-Shirts aus Malaysia: Es reißt das künstlerische Angebot aus seinem Verwendungszusammenhang und nimmt ihm damit einen Teil des Sinns – es droht, sinn-los zu werden. Künstlerische Erfindungen des Menschen werden zur Kunst, wenn andere Menschen sie als Kunst wahrnehmen und erkennen. Kunst ist angewiesen auf Kommunikation. Christos verpackter Reichstag oder sein „Airpackage“ im Gasometer verwandeln sich erst vom unzustellbaren Paket zum Kunstevent, wenn andere Menschen sie so wahrnehmen. Hans Werner Henzes Erfindungen von Geräuschen werden erst zu Musik, zu Kompositionen, wenn sie von einem Publikum als Musik wahrgenommen werden. Das geschieht vorwiegend in der direkten Begegnung mit einem Werk – im Theater, im Konzertsaal, im Skulpturengarten oder bei einer Performance, in der die Kunst nur während der Zeit der Aktionen und der Gegenwart eines Publikums existiert. Danach verschwindet sie wieder – in beiderseitigem Einvernehmen. Kunst und Kommunikation sind untrennbar mit einander verbunden.

Auch wenn nicht zu erwarten ist, dass die Idee der Berliner Philharmoniker auf Dauer reale Konzerte verdrängen wird, sind die Berliner Apps ein weiterer Mosaikstein auf dem Weg in eine Cybergesellschaft, in der alles überall zu jeder Zeit greifbar, verfügbar, für Geld erhältlich ist. Noch ist nicht ausgemacht, ob bei den so günstigen Online-Angeboten nicht mancher Interessent auf den realen Besuch eines realen Konzertes oder einer Theateraufführung aus Kostengründen verzichtet. Denn der Abo-Preis reicht vielen Orts nicht aus, um den Preis für eine Karte zu decken. Noch ist in Etatverhandlungen nicht erprobt, ob Abonnentenzahlen für die so wichtige „Auslastungsquote“, also die Zuschauerzahlen, als harte Fakten akzeptiert werden. Die Theater und Konzerthäuser, die sich solcher Online-Angebote bedienen, müssen sehr genau beobachten, ob sie sich nicht selbst den Ast absägen, auf dem sie bisher sitzen – dank zuverlässiger Besucherzahlen. Und das Glas Wein im Foyer, das – manchmal noch – festlich gekleidete Publikum, die zufällige, nette Unterhaltung mit dem Nachbarn, der Nachbarin im Parkett? Das Publikum muss sehr darauf achten, dass der Zugang zur Kultur nicht digital-zweidimensional verkümmert und es im Fernsehsessel immer unbeweglicher wird. Um das zu verhindern, darf es nicht vergessen, selbst ins Theater, ins Konzert zu gehen – eine Abstimmung mit den Füßen, nicht mit der Maus.

Horst Dichanz, 18.8.2014

Kommentare geben die persönliche Meinung der Verfasserin oder
des Verfassers, aber nicht in jedem Fall die Auffassung von Opernnetz wieder.


Seit 1882 gibt es die Berliner
Philharmoniker, einen Klangkörper,
der zu den führenden der Welt zählt.
Jetzt wird die Kommerzialisierung
voran getrieben.


Kostpröbchen gefällig? Einen Mini-
Trailer gibt es noch kostenlos, danach
fällt die Bezahlschranke. Folgen?
Derzeit nicht absehbar.


Die Wiener Staatsoper hat es
vorgemacht: Kostenpflichtige
Livestreams für Besserverdienende.

Foto 1: Berliner Philharmoniker
Foto 2, 3: Opernnetz