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Kinder blicken auf die Welt

Durch den Blick der Kinder wird die Welt neu entdeckt. Sie entdecken die Welt neu – für sich. Natürlich ist die Welt da, sie existiert. Aber wirklich wird sie erst durch unsere individuelle Wahrnehmung. Wir können also die Welt neu sehen durch den Blick der Kinder, durch die Kunst, durch die Liebe – ein Blick, und die Welt hat sich verändert.

 Das ist auch die Aufgabe des Theaters: Die Welt neu zu entdecken und damit neu erfindbar zu machen. Ohne kitschige Scheinnaivität nach dem Motto: „Wir tun mal so, als wüssten wir nichts von der Welt und unseren Erfahrungen“. Aber Erfahrungen können ein Reichtum oder auch ein Gefängnis sein, je nachdem, wie wir mit ihnen umgehen. Die Aufgabe des Theaters ist es, immer wieder den Versuch zu unternehmen, unseren Blick auf die Welt neu zu erfinden und von den scheinbar sicheren, festgetretenen Bahnen zu befreien.

Wir können also die Welt neu sehen durch den Blick der Kinder, durch die Kunst, durch die Liebe – ein Blick, und die Welt hat sich verändert: bei Shakespeare tritt die Liebe immer wie ein Blitzschlag plötzlich ein, ein „falscher“ Blick, ein „zu langer“ Blick, ein Blick im „richtigen oder falschen Moment“ verändert uns und damit die Welt. Natürlich können auch, wie wir wieder jüngst erfahren, Natur- und Technikkatastrophen unseren Blick auf die Welt verändern.

Es sind also unsere Sinne, die unser Bild von der Welt entstehen lassen. In dem berühmten Romanwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust löst der Geschmack eines banalen französischen Küchleines, der „Madeleine“, eine Flut von Erinnerungs-bildern aus, echten Erinnerungen oder uns von anderen erzählten Erinnerungen, die wir dann zu unseren eigenen machen. Was wissen wir schon über unsere eigenen Erinnerungen?

Viel später kann ein Bild, ein Blick, eine Bewegung, ein Klang, ein Geschmack … noch einmal die Erinnerung an den emotionalen Zustand, an den Ausbruch des Glücks in uns aufscheinen lassen, obwohl sich unsere Gefühle, unsere Sehnsucht, unsere Liebe verloren haben, und kann uns so schmerzlich den Verlust vor Augen führen. Aber wir erinnern uns unbewusst an den ersten entscheidenden Blick und dieser erste entscheidende Blick und die Erinnerung an alles das, was er auslöste, macht uns bewusst, dass unsere Zeit unwiederbringlich abläuft. Deshalb die Forderung an uns, alles immer wieder neu zu sehen. Dabei kann uns die Kunst sehr helfen.

Reisen sind auch, wie wir wissen, eine Möglichkeit, die Welt neu zu sehen. Eine von vielen alten Lebensregeln besagt, wir sollen mindestens einmal im Jahr einen Ort aufsuchen, an dem wir noch nie waren, und uns dessen bewusst sein, damit wir neugierig bleiben und uns selber neu sehen und erfinden können. Jede neue Theateraufführung ist so ein Ort, ist eine Welt, in der wir noch nicht waren.

Im ersten Spielzeitheft meiner Intendanz hier in Oberhausen gab es Fotos des dänischen Fotografen Joakim Eskildsen von seinen Roma-Reisen. In diesem Spielzeitheft zeigen wir Ihnen Erstveröffentlichungen seiner Fotos unter dem Motto „Kinder blicken auf die Welt“. Es ist das Staunen über die Welt, das Staunen über uns selbst und unsere Möglichkeiten. Nicht im Sinne von Verblödung, sondern als Befreiung und Annahme des Reichtums. Das Staunen und das Glück über alles, was da ist, auch ohne unser Zutun, aber für uns nur existent durch unsere Wahrnehmung, die hoffentlich etwas mit uns macht und uns die Freiheit und den Mut zur Veränderung gibt.

Jede neue Theateraufführung ist so ein Ort, ist eine Welt,  in der wir noch nicht waren.

Peter Carp,
erschienen erstmalig im Programmheft der Spielzeit 2011/12 des Theaters Oberhausen.

Klicken Sie bitte auf den blauen Pfeil vor der Überschrift, um Peter Carp mit der Hörversion dieses Beitrags zu genießen!

 

Peter Carp



Peter Carp, geboren 1955 in Stuttgart, wuchs in Hamburg auf und studierte in Hamburg und Berlin Theaterwissenschaften, Publizistik, Kunstgeschichte und Medizin.

Von 1986 bis 1989 arbeitete er als Dramaturg an der Freien Volksbühne bei Hans Neuenfels.

Von 1990 bis 2004 war Carp als freier Regisseur an verschiedenen deutschsprachigen Bühnen tätig.

2004 erhielt er als Schauspieldirektor am Luzerner Theater seine erste Intendanz.

Seit 2008 leitet Peter Carp als Intendant das Theater Oberhausen und hat dort inzwischen seinen Vertrag bis 2018 verlängert.