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Buchbesprechung

Verstummte Stimmen


Herausgeber



Hannes Heer, geboren 1941 in Wissen/Sieg. Studium der Geschichte und Literatur. Arbeit als Journalist, Dramaturg und Regisseur. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte von Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegserinnerung. Lebt als Historiker, Publizist und Ausstellungsmacher in Hamburg.


Kaufinformationen

Hannes Heer, Jürgen Kesting, Peter Schmidt (Hrsg.):
Verstummte Stimmen. Die Bayreuther Festspiele und die "Juden" 1876 bis 1945

Metropol Verlag

ISBN 978-3-86331-087-5

Paperback, 412 Seiten, 24 Euro

 

CD Edition:  Verstummte Stimmen: Tondokumente von Lotte Lehmann, Elisabeth Schumann, Ottilie Metzger, Richard Tauber, Joseph Schmidt, Friedrich Schorr, Herbert Janssen, Alexander Kipnis u.a. Mit einem 56-seitigen Booklet mit Künstlerbiografien und Texten von Albrecht Dümling, Hannes Heer, Jürgen Kesting, Peter Petersen, Waltraut Rubien und Julius H. Schoeps. 4 CD. Membran Music Ltd.
ISBN: 978-3-86735-385-4


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Teilaufklärung

Wer seit Juli 2012 den Park um das Bayreuther Festspielhaus besucht, wird auf eindringliche Weise mit der dunklen und lange verdrängten antisemitischen Vergangenheit der Bayreuther Festpiele konfrontiert. Gedenkstelen auf dem Grünen Hügel dokumentieren das Schicksal jüdischer Künstler in Bayreuth – eine Geschichte von Diskriminierung und Ausgrenzung, die schon lange vor der nationalsozialistischen Machtergreifung ihren Anfang nimmt. Ursprünglich nur als temporäre Ausstellung im Sommer und Herbst 2012 gedacht und während der Zeit um einen überregionalen Teil im Bayreuther Neuen Rathaus ergänzt, ist der Verbleib der Stelen auf dem Grünen Hügel mittlerweile bis Ende 2013 sichergestellt; über eine dauerhafte Aufstellung wird derzeit verhandelt.

Die Ausstellung ist Teil des Forschungsprojektes Verstummte Stimmen, das die "Vertreibung der 'Juden' aus Oper 1933-1945" in Deutschland untersucht. Das Projekt unter der Leitung des Historikers Hannes Heer, des Musikkritikers Jürgen Kesting und des Designers Peter Schmidt läuft seit 2006 und untersuchte bereits die Geschehnisse an den Opernhäusern in Hamburg, Berlin, Dresden, Darmstadt und Stuttgart. Es besteht jeweils aus einer Ausstellung und einem Katalog.

Der Katalogband Verstummte Stimmen. Die Bayreuter Festspiele und die "Juden" 1876 bis 1945, der aufgrund der großen Resonanz jetzt bereits in zweiter Auflage vorliegt, geht weit über die Dokumentation der Bayreuther Ausstellung hinaus. Zwei biografische Teile - 44 prominente Künstler verfasst von Jürgen Kesting sowie Die Opfer der Vertreibung in Bayreuth von Sven Fritz und Jens Geiger - zeigen das Ausmaß der rassistischen Verfolgung im Musikleben anhand individueller Schicksale. 53 Mitarbeiter der Festspiele werden Opfer des Nationalsozialismus: 23 Solisten, 16 Mitglieder des Festspielorchesters, acht Korrepetitoren und Assistenten, fünf Chormitglieder und ein Dirigent – zwölf von ihnen werden deportiert und ermordet. Zitatgesättigte Aufsätze zur Geschichte der Bayreuther Festspiele, zur völkischen und nationalsozialistischen Bewegung in Bayreuth und über die antisemitische Besetzungspolitik der Bayreuther Festspiele entwickeln das Thema trotz der Studien etwa von Michael Karbaum, Frederic Spotts oder Udo Bermbach in bislang nicht vorliegender Dichte.

Was die Bayreuther Festspiele im negativen Sinne auszeichnet, ist, dass die Ausgrenzung jüdischer Künstler und Mitarbeiter bereits viel früher einsetzt, als an anderen deutschen Opernhäusern. Während es hier nach der nationalsozialistischen Machtergreifung mit dem "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 zur Entlassung jüdischer Mitarbeiter kommt, ist das in Bayreuth zwar nicht vollständig aber doch systematisch seit Richard Wagners Tod 1883 gängige Praxis. Wagners antijüdische Einstellung, manifestiert ab dem Jahr 1850 in dem zuerst anonym publizierten Pamphlet Das Judenthum in der Musik hat ihn nicht davon abgehalten, mit jüdischen Musikern wie dem Dirigenten Hermann Levi oder der Sängerin Lilli Lehmann langfristig zusammenzuarbeiten und auch darüberhinaus zahlreiche andere Kontakte aufrechtzuerhalten. Hannes Heer schildert in seinem Aufsatz über die Bayreuther Besetzungspolitik, dass sich das nach Cosima Wagners Übernahme der Bayreuther Festspiele 1885 radikal ändert. Zwar arbeitet sie weiterhin mit Hermann Levi zusammen, Dirigent in Bayreuth ab 1875 und Uraufführungsdirigent des Parsifal, da sie ihn aus künstlerischen Gründen nicht ersetzen kann, doch wird in zunehmendem Maße nicht die Qualität Maßstab für Besetzungen, sondern die "rassische" Herkunft. "Wenn es nicht sein muss, wollen wir doch die Juden außen lassen", so fasst der Dirigent Felix Mottl die Besetzungsrichtlinie in einem Brief an Cosima Wagner im Mai 1888 zusammen. In den Meistersingern 1888 wird keine Rolle "jüdisch" besetzt: "Diese Inszenierung muss ohne israelitische Beimischung stattfinden", bestimmt Cosima Wagner, und auch in den Folgejahren wird nur "jüdisch" besetzt, wenn es keine akzeptablen "deutschen" Künstler gab. Levi, dem Heer ein eigenes Unterkapitel widmet, sieht sich einer zunehmenden Diskriminierung auch im Verhältnis zu anderen Mitarbeitern der Festspiele ausgesetzt; eine permanente Situation von Anziehung und Abstoßung, bis es 1893 zum endgültigen Bruch kommt. 1907, nach der Übernahme der Festspiele durch Siegfried Wagner, ändert sich an der antisemitischen Grundeinstellung des Leitungsteams wie an der Besetzungspolitik nichts. Nur wenn es aus Besetzungs- oder Imagegründen geboten erscheint, "biss man in den sauren jüdischen Apfel", wie es Siegfried Wagners Dirigent Karl Muck 1924 ausdrückt, der auch für die Zusammenstellung des Festspielorchesters zuständig ist. Die von Heer zitierten Briefe dokumentieren einen generationsübergreifenden, ungebändigten, geradezu hysterischen Antisemitismus.

Ergänzt wird das Gesamtprojekt Verstummte Stimmen durch eine CD-Edition. Die von Jürgen Kesting zusammengestellte Auswahl enthält Aufnahmen von Stars der Zeit wie Lotte Lehmann, Elisabeth Schumann, Richard Tauber oder Joseph Schmidt. Das Bayreuther Kapitel repräsentieren Ottilie Metzger-Lattermann, Friedrich Schorr, Bayreuther Wotan der Jahre 1925-1931, Alexander Kipnis, in Bayreuth 1927, 1930, 1933 als Gurnemanz, König Marke, Pogner und Titurel, und Emanuel List. Wegen seiner Homosexualität verfolgt wurde der Kölner Bariton Herbert Janssen, Debut in Bayreuth unter Toscanini als Wolfram in den Meistersingern 1930, mit weiteren Auftritten im Festspielhaus 1931, 1936 und 1937. 1938 emigriert er über England in die USA, wo er eine zweite Karriere aufbauen kann, was auch Schorr, Kipnis und List gelingt. Ottilie Metzger-Lattermann hingegen flieht 1939 nach Brüssel, wo sie sich als Gesangspädagogin durchschlägt, aber dort 1942 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wird, wo sich ihre Spur verliert. Das CD-Booklet versammelt ihre Biografien sowie Texte von Albrecht Dümling, Hannes Heer, Jürgen Kesting, Peter Petersen, Waltraut Rubien und Julius H. Schoeps.

Lange ist die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Bayreuther Festspiele in der Öffentlichkeit eingeklagt worden. Diese Initiative ist ein entscheidender Beitrag auf dem Weg zu mehr Transparenz, dabei wissenschaftlich und öffentlichkeitswirksam zugleich. Ein abschließendes und integrales Bild ergibt sich allerdings noch nicht, da Teile der Familie Wagner den Zugang zu den Nachlässen von Winifred und Wolfgang Wagner weiterhin nicht freigeben.

Dirk Ufermann, 27.2.2013

 

Fotos: Opernnetz