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Buchbesprechung

Der wandernde Turm


Herausgeber



Kaufinformationen

Lucian Plessner (Hrsg.),
Sergej Prokofjev:
Der wandernde Turm
- Die Erzählungen

Edition Elke Heidenreich

ISBN 978-3-570-58034-9

Gebunden, 192 Seiten, 20 Euro


Points of Honor                      

Buchidee

Stil

Erkenntnis

Preis/Leistung

Verarbeitung

Chat-Faktor


 

 

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Schön skurril

Auf einer weichen, flauschigen Wolke lagen zwei große Pflastersteine, auf denen wiederum es sich zwei in nebelige Kleider gehüllte Gestalten bequem gemacht hatten. Eine Gestalt war ultraviolett, die andere infrarot. Es handelt sich um die Schwestern Zeit und Raum, die ihres Tuns überdrüssig sind und deshalb beschließen, die Welt sich selbst zu überlassen. Solche Ideen finden sich zahlreich in der Geschichtensammlung des Dichters Sergej Prokofjev. Des Dichters? In der Tat: Die Rede ist vom Komponisten Prokofjev, der während seiner Reisen Erzählungen schrieb. Schon als Jugendlicher, so erzählt Herausgeber Lucian Plessner, behauptete Prokofjev: Wenn ich nicht Komponist werde, dann werde ich Schriftsteller. Wie wir wissen, ist ein mehr als passabler Komponist aus ihm geworden.

Lucian Plessner, der als Gitarrist wiederholt Konzerte in Moskau gibt, entdeckt ein paar Geschichten in einer alten Zeitschrift in der letzten Wohnung Sergej Eisensteins, die von Prokofjev stammen. Plessner erkennt die Bedeutung seines Funds und setzt sich mit Oleg Prokofjev in Verbindung. Daraus entsteht, neben freundschaftlicher Verbundenheit, eine fruchtbare Zusammenarbeit, an deren Ende nun die Sammlung von Erzählungen steht. Mehr als zehn Jahre hat es gedauert, bis Plessner die Geschichten gesammelt, gemeinsam mit Alexandra Kravtsova aus dem Russischen ins Deutsche übertragen und einen Verlag gefunden hat, der sich für das Projekt interessiert.

Nun sind sie also veröffentlicht, die Geschichten, die zwar immer ihre Entsprechungen in Prokofjevs Leben finden, stets aber die Filter der Fantasie durchlaufen haben und sich in einer einfachen, starken Sprache mit ironischen Erkenntnissen, oft pointiert, präsentieren. Es sind Geschichten, von denen man sich vorstellen könnte, wie Prokofjev sie in gemütlicher Runde in Eisensteins Wohnung Freunden vorgelesen hat. Ja, das Buch regt die Fantasie an!

Ein Wermutstropfen sind die beiden letzten Geschichten, die wohl der historischen Vollständigkeit halber aufgenommen wurden. Leider erfährt der Leser erst am vorzeitigen Ende, dass es sich um Fragmente handelt. Hier hätte ein Hinweis in der Überschrift vor Enttäuschung geschützt. Entschädigt wird der Leser durch die zusätzlichen Anmerkungen Plessners über die Entstehung der Geschichten und des Buchs, die ebenso interessant, wie die Geschichten oft ein bisschen surreal sind. Bereichert wird das Buch mit den linolschnitthaften Illustrationen Elisabeth Klingenbergs, die den Ton der Erzählungen sehr genau übersetzen. Die abschließende Zeittafel zeigt noch einmal die Tragik des Prokofjevschen Lebens auf, die in seinem Todestag gipfelt: Stalin höchstpersönlich verstarb am 5. März 1953, am selben Tag wie Sergej Sergejewitsch Prokofjev in Moskau. Ausgerechnet der Diktator also entriss dem unpolitischen Prokofjev, dem alle Obrigkeitshörigkeit zutiefst suspekt war, im buchstäblich letzten Augenblick jedwede Beachtung. Überwältigt vom undenkbaren Tod des Großen Schnurrbartträgers, nahm in Moskau nicht nur niemand Notiz von Prokofjevs Ableben, sondern es blieb im Moskauer Trauersturm tatsächlich nicht eine einzige Blume übrig für Sergej Sergejewitsch Prokofjev.

Der wandernde Turm ist ein ungewöhnliches, absolut lesenswertes Buch - nicht nur für Musikhistoriker.

Michael S. Zerban, 5.3.2012

Bitte beachten Sie auch das Backstage mit Lucian Plessner!