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DVD-Besprechung

OEDIPUS

28.12.2012


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Kamera
Ton

Chat-Faktor


Cover





 

 

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Die Welt eine Warze

Das Prinzip der Dekonstruktion hat eigentlich einen falschen Namen. Wenn Künstler bereits Bestehendes zerstören, ist das ein Schaffensprozess, der dazu dient, die entstandenen Teile neu zusammenzusetzen, um so etwas Neues, möglicherweise Größeres entstehen zu lassen. So hat es auch Wolfgang Rihm mit seiner Oper Oedipus gehalten. Statt eines Librettos setzt er Textfragmente zusammen: aus der Hölderlin-Übersetzung, Heiner Müllers Ödipuskommentar von 1965 sowie aus Nietzsches Oedipus, Reden des letzten Philosophen mit sich selbst. Ein Fragment aus der Geschichte der Nachwelt von 1872/73 formt Rihm eine zeitgenössische Oper, die 1987 an der Deutschen Oper Berlin in der Inszenierung von Götz Friedrich zur Uraufführung kommt. Bei Arthaus ist jetzt die Live-Aufzeichnung auf DVD erschienen.

Es geht gleich gruselig mit einer Introduction, also einer Einführung, los. Im typischen Charme der 1990-er Jahre verliert ein gewisser Georg Quander in gequälter Pose gestelzte Worte über das bevorstehende Ereignis. Dass er dabei mehrfach ins Stocken gerät, amüsiert die im Hintergrund erkennbaren Bühnenarbeiter ebenso wie die bemühte Ernsthaftigkeit. Mit einer Diashow von Fotos der folgenden Handlung erklärt Quander, was auf den Zuschauer zukommt.

Damit ist der Schrecken überstanden, und das Drama kann beginnen. Professionelle Fernsehbilder mit einer satten Mischung von Totalen bis Close-ups – ohne den Sängern in den Rachen zu schauen – schaffen eine intensive, düstere Atmosphäre, die den Zuschauer von Anfang an in den Bann zieht. Christoph Prick führt das Orchester der Deutschen Oper Berlin exakt und wohltemperiert durch eine zeitgenössische Musik, die sich vom mathematischen Formelwahn bereits wieder abwendet. Dank perfekter Abmischung sind so nicht nur die orchestrale Klangstärke, sondern auch Sänger und Lautsprecherzuspielungen wunderbar ausgeglichen zu verstehen.

Für das perfekte musiktheatralische Klangerlebnis sorgt die Technik natürlich nur unterstützend. Friedrich kann in seiner prallen Inszenierung mit Sängerdarstellern aufwarten, die man in ihrer Einzigartigkeit in der Fülle nicht so oft erlebt. Allen voran Andreas Schmidt als Oedipus und Emily Golden als Jokasta, die so lebensecht wie in einem Spielfilm über die Mattscheibe spielen. Sängerisch lassen Schmidt und Golden den Zuschauer wahre Perfektion erleben. Da stört es auch nicht, dass Schmidt über weite Strecken abgehoben in die Ferne schaut. Wenn der Klang einer Stimme, eines Gesangs eine übergeordnete Qualität erreicht, versteht man die Italiener, die in einer Opernaufführung sitzen und die Augen schließen, um nicht sehen zu müssen, was sie auf der Bühne ablenken könnte, und sich ganz dieser Stimme hingeben. Das passiert dem Zuschauer bei dieser DVD wohl mehrfach – auch wenn er immer wieder von Symbolen und Lichteffekten in die Faszination der Aufführung zurückgeholt wird.

Eine der eindrucksvollsten Szenen ist hier sicher das Geständnis des Hirten, der Oedipus nicht getötet hat. Friedrich lässt ihn ans Kreuz fesseln, um auch dieses Symbol zu bemühen. Schmidt und William Murray als Hirt in der Nahaufnahme: Grelles Scheinwerferlicht, in dem die Wahrheit zu Tage tritt. Das ist echt, das ist authentisch. Aber auch, wenn Oedipus sich blendet, ersetzt das Licht in der Wirkung Blutspritzer oder andere Erklärungsversuche. Solche Regiearbeiten sieht man selten. Und wenn Oedipus geblendet als wahrhaft Sehender die Welt, vulgo: die Bühne, verlässt, dürfte auch der letzte Skeptiker überzeugt sein, dass er hier gerade wahrhaft große Oper am Bildschirm erlebt hat.

Das sieht das Publikum 1987 – dankenswerterweise ist das Publikum zum Ende der Aufführung wenigstens akustisch eingefangen – noch ganz anders. Zwar werden die Protagonisten frenetisch gefeiert, ebenso energisch aber gibt es Buh-Ruhe für das Leitungsteam. Das war schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert nicht angebracht, rückblickend ist es eher blamabel – für die Zuschauer im Saal.

Blamabel an der DVD ist das marginale Begleitheft. In drei Sprachen auf 27 Seiten aufgepumpt, gibt es den einzigen Text von Curt A. Roesler auf zwei Doppelseiten in Deutsch. Die Basisinformationen sind auf weniger als ein Minimum zurückgeschrumpft. Wer aber eine historische Aufnahme veröffentlicht, hat vielleicht etwas mehr Verpflichtung zur Information als die Macher von Indiana Jones, Teil 10. Zusätzliches Material wird auch – abgesehen von Werbetrailern – auf der DVD nicht geboten. Dafür ist sie handwerklich ordentlich gemacht, bietet auch deutsche Untertitel und ist in der Benutzerführung leicht verständlich.

Wer sich auch nur ansatzweise für zeitgenössische Oper interessiert, kommt an dieser DVD nicht vorbei. Und wer sagt, dass zeitgenössische Musik nichts für ihn ist, schaue sich diese DVD an. So spannend hat man Rihm – und auch die Oedipus-Saga – wohl noch nicht gesehen.

Michael S. Zerban

Fotos: Jacopo Morando