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Buchbesprechung

Richard Wagner - Mit den Augen seiner Hunde betrachtet


Autorin



Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, ist promovierte Philosophin,
Reporterin des Tagesspiegels und Kolumnistin der taz. Sie lebt in Berlin.
Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter über Heinrich Heine, Paula
Modersohn-Becker und Else Lasker-Schüler. Zuletzt erschienen Lou
Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich
und Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe.


Kaufinformationen

Kerstin Decker:
Richard Wagner - Mit den Augen seiner Hunde betrachtet

Berenberg

ISBN 978-3-937834-61-0

Gebunden, 288 Seiten, 25 Euro


Points of Honor                      

Buchidee

Stil

Erkenntnis

Preis/Leistung

Verarbeitung

Chat-Faktor


 

 

zurück       Leserbrief

Der Hundeversteher

Man kann seine Frau verlassen, vielleicht sogar seine Kinder, aber niemals seinen Hund. Ich habe schon angedeutet, dass diese Worte lächerlich sind, wenn von uns beiden die Rede ist. Und nicht nur, weil nicht der Kapellmeister sich einen Hund aussuchte, sondern der Hund sich einen Kapellmeister. Wie oft hat er mir gesagt, dass ich der einzige Mensch bin, mit dem man sich hier unterhalten kann. Das sagt nicht irgendein bester Freund, sondern das sagt Robber, Richard Wagners Weggefährte, ein Neufundländer.

Es ist die vielleicht originellste Idee einer Wagner-Biografie, die wir in diesem Jahr kennenlernen werden. Kerstin Decker, promovierte Philosophin, Journalistin und Buchautorin, hat sie entwickelt und auch gleich das Buch dazu geschrieben. Richard Wagner – Mit den Augen seiner Hunde betrachtet heißt das Werk, das auf 288 Seiten Ausschnitte aus dem Leben des Komponisten ausbreitet. Es muss Decker klar gewesen sein, dass sie das Thema nicht durchgängig durchhalten kann, aber das nimmt sie in Kauf. Und so lernt der Leser Robber, Peps, Fips, Leo, die Blonde, Pohl und Russ kennen. Anstatt das Buch enttäuscht wegzulegen, wenn plötzlich Hunde so gar keine Rolle mehr spielen, ist man längst von Deckers wunderbarem, fesselnden Stil gefangen und liest – allenfalls mit einem „Hab ich’s doch gewusst“ – weiter. Die E-Dur-Trompeten und die Es-Dur-Trompeten setzen statt nacheinander gleichzeitig ein, himmlische und irdische Liebe im selben Augenblick. […] Ob Peps, der Tonsachverständige, es auch so verstanden hätte? Er hätte. Davon ist der Leser an dieser Stelle überzeugt.

In zahlreichen Perspektivwechseln zeichnet die Autorin nicht etwa das Bild des Hunde liebenden, glorreichen Genies, sondern zeigt einen Künstler, der sein Leben gern als Gesamtkunstwerk begriffen hätte, dabei aber permanent unter der Last der Geldsorgen zu ersticken droht. In seiner höchsten Not weiß Wagner noch nicht, dass sich das Wunder schon anbahnt, sondern verliert mehr und mehr seinen Lebensmut. Doch dann: Seine neue Stellung im Leben sowie am Hof kam meinem Herrn so vor: Ich habe keinen Titel, keine Funktion, keine Verpflichtung. Ich bin nichts als Richard Wagner! Und nur dafür, dass er Richard Wagner war, wurde er königlich bezahlt. Das gab es noch nie. Pohl, der Hund, berichtet das. Pohl, die vielleicht tragischste Gestalt des Buches, wenn es nicht Wagner selbst ist. Muss er doch erleben, dass die Geldnot selbst die Liebe zu den Tieren vergessen macht. Unter solchen Umständen soll der Komponist noch arbeiten? Er muss. Er arbeitet am dritten Tristan-Akt, er darf nicht gestört werden. Auch die Sonne fügt sich dieser Vorgabe und hält sich ein ganzes Frühjahr lang bedeckt. Da komponiert einer alle Lüste der Nacht. […] Aber woher soll das Gestirn wissen, dass er dazu wenigstens ein bisschen Sonne braucht. Es muss Licht sein innen, wenn man die ewige Dunkelheit komponieren soll. Sätze wie gemalte Bilder, Sätze, die einem unter die Haut gehen.

Dabei, und das ist das Wunderbare, driftet Decker nie in den Kitsch ab. Zugegeben, das ist weniger schwierig, weil die Zustände schon so tragisch genug sind. Seltsam an der Oberfläche geht es zu, wenn die Rede von den großen menschlichen Lieben Wagners ist. Da geht es der Leserin wie den Hunden: Sie bleiben vor der Schlafzimmertür. Mit Ausnahme von Peps, natürlich, aber da ist nicht verbürgt, dass Minna noch im Schlafzimmer ist. Wie viel Liebe kann ein Mensch geben? Aus Sicht der Wagnerschen Hunde kaum mehr, als Wagner selbst dazu im Stande ist. Sagt Decker. Und die muss es wissen. Wie hätte sie sonst ein solch liebevolles Buch schreiben können? Ein wahrer Lesegenuss, der das macht, was ein Buch im besten Falle kann: Kopfkino. Und bitte nicht verfilmen.

Wer übrigens bezweifelt, dass Hunde wirklich lieben können, und sich nicht, wie Katzenliebhaber gern behaupten, unterwerfen, dem sei dieses Zitat von Russ, der seine letzte Ruhestatt in Bayreuth gefunden hat, empfohlen: Als die beiden Diebe meinen Herrn auf dem Weg in die Stadt überfielen, habe ich statt der Diebe meinen Herrn festgehalten. Er fand das verkehrt. Ich hätte ihn den Strolchen vollkommen ausgeliefert, schimpfte er. Ja, hinterher sagt sich so was leicht. Es waren Diebe, ich habe dafür gesorgt, dass sie ihn nicht auch noch mitnehmen. Ist das nicht großartig?

Michael S. Zerban, 21.3.2013