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Buchbesprechung

Mythos Nibelungen


Herausgeber



Joachim Heinzle, 1945 in Konstanz geboren, ist emeritierter Professor für Ältere Deutsche Sprache und Literatur am Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters an der Philipps-Universität Marburg. Bis 2010 war er Herausgeber der Zeitschrift für deutsches Altertum.


Kaufinformationen

Joachim Heinzle (Hrsg.):
Mythos Nibelungen

Reclam

ISBN 978-3-15-020283-8

Paperback, 360 Seiten, 13 Euro


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Nibelungen für die Westentasche

Ob die Nibelungen heute aktueller denn je sind, wie Joachim Heinzle in seinem Essay, der seine große Textsammlung zur Tradierung des Nibelungen-Mythos einleitet, behauptet, mag man getrost bezweifeln. Mit Heiner Müllers Germania 3. Gespenster am toten Mann aus den Jahren 1990-95, dem letzten Nibelungenbruchstück im neuen Reclam-Taschenbuch, spricht auch seine Textauswahl nicht gerade für die Aktualitätsbehauptung. Doch allein die Vielfältigkeit der Bearbeitungen und Interpretationen, nicht zuletzt auch die historische Wirkmächtigkeit des Mythos, machen Thema und somit auch den neuen Reclam-Band zu einer spannenden Angelegenheit. Heinzle, Emeritus für Deutsche Philologie des Mittelalters an der Marburger Universität, erkennt in den Nibelungen mit Heiner Müller vor allem ein deutsches und hier identitätsstiftendes Thema, ein Thema von "nationaler Bedeutsamkeit"', das vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert virulent wird, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer kritischen und analytischen Wende dann aber doch an Bedeutung verliert.

Heinzles Mythos Nibelungen ist zweigeteilt. Rund ein Viertel des Bandes nimmt seine Einleitung ein, die den historischen Gehalt, die Stoff- wie auch die politische Geschichte des Nibelungen-Mythos konzise aufzeichnet. Anhand der sich anschließenden Textsammlung von den Anfängen der Heldensage bis zu Heiner Müllers Text aus dem Ende des 20. Jahrhunderts lassen sich seine Ausführungen und auch seine Auffassungen überprüfen.

Es ist faszinierend – und daran lässt sich auch der in zahlreichen Vorgängerpublikationen dokumentierte lange Vorlauf erkennen – wie locker der Herausgeber die verzweigte Genese des Stoffes für die Frühzeit entwickelt. Die ersten Überlieferungen in der literarischen Form der Heldensage - Das Alte Atlilied, vermutlich aus dem 9. Jahrhundert, Das Regin-, Fafnir- und Sigrdrifalied, vermutlich aus dem 12. Jahrhundert, beide Textgruppen überliefert in der isländischen Lieder-Edda, einer Textsammlung aus dem 13. Jahrhundert, Das Nibelungenlied, entstanden um 1200, und dieVölsunga saga aus der Mitte des 13. Jahrhunderts - befinden sich noch vergleichsweise nah an ihrer historischen Verankerung. Um 435/436 fallen die am Mittelrhein siedelnden Burgunden, in der Überlieferung der Edda auch Nibelungen genannt, unter Gundicharius in die römische Provinz Belgica I ein, wo sie vom römischen Feldherr Aëtius vernichtend geschlagen werden. Doch gleich in der frühen Phase der Transformation von Geschichte in Literatur werden die bruchstückhaft überlieferten historischen Ereignisse mit menschlich-allzumenschlichen Motiven wie Gier, Stolz und Rachlust angereichert, andere Erzählmuster angehängt. Geschichte wird umerzählt und enthistorisiert, vielleicht um sie verständlicher, nachvollziehbarer und besser tradierbar zu machen. Führt das Alte Atlilied die Personen von Gunter (Gunnar), Hagen (Högni) und Gudrun ein, akzentuieren die Regin-, Fafnir- und Sigrdrifa-Lieder der Edda die Figur des Siegfried (Sigurd). Die Siegfried-Sage erzählt von Siegfrieds Jugend beim Schmied Regin, dem Kampf gegen den Drachen und von Siegfrieds Tod, wo sich der Stoff mit der Burgundenthematik verbindet, wenn er die Schwester der Burgundischen Könige heiratet und von ihnen ermordet wird. Dem Siegfriedstoff liegen, so wird vermutet, historische Ereignisse aus dem merowingischen Reich der Franken des 6./7. Jahrhunderts zugrunde; sie lassen sich aber nicht mehr so präzise orten wie beim ersten Traditionsstrang. Das Nibelungenlied und die Völsunga saga tradieren den Stoff weiter, wie auch zahlreiche kunsthistorische Dokumente wie Teppich und Kreuzdarstellungen. Heinzle zieht kunsthistorische Quellen ebenfalls für seine Interpretation heran und lässt sie dem Buch zum Teil auch als Illustration dienen, etwa ein Steinkreuz von Kirk Andreas auf der Isle of Man aus dem 10. Jahrhundert mit Darstellungen von Siegfried und Gunter.

Nach diesem ersten Zeitblock kommt es zu einem weiten Zeitsprung bis ins Zeitalter der Aufklärung. Johann Jakob Bodmer, Professor für Helvetische Geschichte am Collegium Carolinum in Zürich, wird fasziniert auf Handschriften mit dem Adventure von den Gibelungen aufmerksam. Bodmer überträgt sie ins Hochdeutsche und publiziert seine Fassung 1767 in seiner Epensammlung Calliope unter dem Titel Die Rache der Schwester. In Abgrenzung zu der seit der Renaissance bestehenden Griechenlandbegeisterung in Europa positioniert er den Verfasser des Nibelungenliedes als deutschen "Original-Homer" und das Werk als ursprünglich-deutsches Nationalepos. So bringt er als erster den Stoff in ein nationalkulturelles Fahrwasser. Gleiches beabsichtigt Friedrich Heinrich von der Hagens Übertragung des Nibelungenliedes von 1807. Er ist begeistert von der nationalen Größe des Textes, liest ihm einen "unvertilkbaren" deutschen Charakter ab und instrumentalisiert die Nibelungen im Kampf gegen Napoleon.

Die Dramentrilogie Der Held des Nordens (1808-10) von Friedrich de la Motte Fouqué übersetzt die Nibelungensage literarisch in Tragödienform. Ludwig Uhland widmet Siegfrieds Schwert 1812 ein Gedicht. Heinrich Heine kann der grassierenden Siegfriedbegeisterung hingegen nicht so recht viel abgewinnen und spottet : "Er hat so viel Mut wie hundert Löwen und so viel Verstand wie zwei Esel", wie wohl er die "große, gewaltige Kraft des Nibelungenliedes" nicht verleugnet. Die intellektuellen Schwergewichte im 19. Jahrhundert sind aber Friedrich Hebbels Drama Die Nibelungen und Richard Wagners Der Ring des Nibelungen. Hebbels Intention ist, "den dramatischen Schatz des Nibelungen-Liedes für die reale Bühne flüssig zu machen, nicht aber den poetisch-mythischen Gehalt des weit gesteckten altnordischen Sagen-Kreises, dem es selbst angehört, zu ergründen". Der "gewaltige Schöpfer unseres National-Epos" sei "in der Conception Dramatiker vom Wirbel bis zum Zeh" und er selber einzig "Dolmetscher des Höheren." Doch Hebbels tendenzielle, sperrige Dramatisierung ist bis heute nur selten auf den Bühnen zu sehen, wenngleich es immer wieder ehrgeizige Inszenierungsansätze gibt, wie zuletzt etwa Karin Beiers Antrittsinszenierung am Schauspiel Köln im Herbst 2007. Mit Richard Wagner kommen die Nibelungen auf die Opernbühne. Wagner verfolgt ähnlich Fouqués die Strategie, den literarischen Stoff mit der griechischen Dramenstruktur zu verknüpfen, dem zyklischen Aufbau des Werks nach dem Vorbild der Tragödien des Aischylos also, jedoch hat er inhaltlich ein anderes Ziel: Wagner kondensiert aus dem Stoff einen mythisch-überzeitlichen Kerngehalt, dem zufolge sich mit Liebe und Macht zwei ewig antagonistische Prinzipien gegenüberstehen.

Die Nibelungen bleiben auch weiterhin Instrumente der politischen und hier vor allem nationalistischen Auseinandersetzung und Propaganda: Bismarck als Siegfried und "Reichsschmied", das Schlagwort von der Nibelungentreue, Durchhalteparolen im ersten Weltkrieg - das Nibelungenlied als das "Hohelied von deutschem Heldenmut und deutscher Heldentreue", danach dann die Dolchstoßlegende, bis hin zu der martialischen Nibelungenrhetorik eines Göring im Nationalsozialismus. Heinzles Sammelband liefert auch ein Dokument aus der NS-Zeit, das andere Töne anschlägt. Der Bonner Germanist Hans Naumann hält am 8. Juli 1942 an der Bonner Universität einen Vortrag mit dem Thema Das Nibelungenlied eine staufische Elegie oder ein deutsches Nationalepos? Seine These ist, dass das Nibelungenlied kein Nationalepos sei, obwohl es "in der ganzen Haltung, was Ruhm, Ehre, Wagemut, Tatkraft, Entschlossenheit, Pflichten und Rechte betrifft" eine "ewige Schule" für Deutsche sein könne. Als Nationalepos eigne es sich nicht, weil es in "einem hoffnungslosen Massentode alles germanischen Kriegsvolkes" ende - zu düster, zu wenig aufbauend und depressiv also dann doch, gerade in Kriegszeiten.

Heinzles Essay widmet auch Fritz Langs monumentaler Nibelungenverfilmung aus dem Jahre 1924 eine längere Passage, in der er zeigt, wie Lang zwischen marktgerechter Anpassung an die Nibelungeneuphorie und künstlerischem Anspruch laviert. Dabei schreckt Lang auch vor großen Worten nicht zurück, wenn er formuliert, dass er beabsichtige, das "geistige Heiligtum einer Nation", in einer Weise filmisch darzustellen, "die das Heilig-Geistige nicht banalisiere." Trotzdem ist daraus bekanntlich kein deutschnationaler Film geworden.

Die Nachkriegszeit nach 1945 repräsentieren Gedichte von Paul Celan, die Folgen und Verarbeitung des Nationalsozialismus in der Diskussionen der jungen Bundesrepublik zum Inhalt haben. Mit Heiner Müllers düsterer Weltsicht nimmt Joachim Heinzles Tour de Force durch die Stoffgeschichte des Nibelungenmythos ihr Ende.

Mythos Nibelungen gibt somit einen üppigen Einblick in die Tradierung des Nibelungenstoffes. Sehr knapp fällt allerdings die Betrachtung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Gerade bei bildenden Künstlern wie Joseph Beuys, Anselm Kiefer und in der etwas oberflächlicheren Variante auch bei jüngeren Künstlern wie Jonathan Meese - der nächste Regisseur des Parsifal bei den Bayreuther Festspielen - machen die Nibelungen eine erstaunliche Karriere und besetzen thematisch zentrale Kunstwerke; man könnte sogar von einem Abwandern der Nibelungen aus der Literatur sprechen, ein Phänomen, das zumindest einer Erwähnung wert gewesen wäre.

Dirk Ufermann, 19.3.2013