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 DVD-Besprechung

Written on Skin

4.2.2014

 

 

Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Kamera

Ton

Chat-Faktor


Cover

 

 

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Ein Opernthriller, der unter die Haut geht

Wahrscheinlich ist sie die erfolgreichste „neue“ Oper der letzten zwei Jahre: Written on Skin von George Benjamin. 2012 beim Festival in Aix-en-Provence aus der Taufe gehoben, wurde sie im selben Jahr noch in Amsterdam und Toulouse aufgeführt. 2013 folgten Aufführungen in London, Florenz beim Maggio Musicale Fiorentino, Wien bei den Festwochen, München bei den Opernfestspielen, Bonn und Paris. Überall erntete das Musikdrama überwiegend himmlische Kritiken und war ein riesiger Publikumserfolg. Das Werk wurde auch mit dem ersten internationalen „Opera Award“ in der Kategorie „World Premiere“ ausgezeichnet. Im kommenden April kommt das Werk in Detmold heraus. Nicht verwunderlich ist also, dass Opus Arte jetzt davon eine DVD veröffentlicht hat. Sie wurde im Royal Opera House London im März des vergangenen Jahres live mitgeschnitten, mit den gleichen Sänger in den wichtigsten Partien wie bei der Uraufführung und gleichfalls mit dem Komponisten selbst am Pult.

Der britische Dramatiker Martin Crimp, der mit dem Komponisten nach der gemeinsamen, ersten, erfolgreichen Oper Into The Hill schon das zweite Mal zusammenarbeitet, stützt sich bei seinem Libretto auf mittelalterliche Manuskripte und lässt alle Figuren narrativ sprechen: Sie treten aus sich heraus, erzählen von sich auch in der dritten Person und stellen sich neben sich. Realität und gespiegelte Realität fließen so ineinander. Zudem hat er noch die Ebene der Engel eingeführt, die die Szene kommentieren, mitwirken und immer wieder in die Handlung eingreifen.

Und diese ist grausig genug und geht auf die Sage über Le Coeur mangé, dem „Gegessenen Herzen“ aus dem 13. Jahrhundert über Guillem de Cabestanh, einem Troubadour aus der Provence, zurück: Ein reicher, herrschsüchtiger Mann, der Protektor, lädt einen jungen Buchmaler in sein Haus ein, um sein Leben und die „Reinheit“ seiner Frau, die er unterdrückt und schlecht wie eine Bedienstete behandelt, zu preisen. Die Frau verführt den „Boy“, wie er in der Oper bezeichnet wird, und findet so ihre Weiblichkeit wieder. Der Ehemann kommt hinter die Wahrheit, tötet den Boy und setzt sein Herz seiner Frau Agnès zum Mahl vor. Noch bevor er sie schließlich mit dem Messer töten kann, begeht diese den für sie befreienden Selbstmord, indem sie aus dem Fenster springt.

Also ein letal endendes Dreiecksverhältnis mit klassischen Ingredienzien wie Liebe, Lust und Grausamkeit versehen, das hier im Royal Opera House in London wie auch bei der Uraufführung in Aix-en-Provence und auch bei der Produktion im Theater an der Wien bei den Wiener Festwochen letzten Juni von Katie Mitchell genial umgesetzt wird. So sitzt auch auf der vorliegenden DVD jede Aktion, jede Geste, passend zur Handlung und zur Musik. Und so wird die Story zum albtraumhaften Thriller, dem sich niemand entziehen kann und der unter die Haut geht. In vier Zimmern, zwei im Heute, zwei im Mittelalter – die Ausstattung stammt von Vicki Mortimer – wodurch es zur fließenden Vermischung der Zeiten kommt, spielt sich das Zieldrama ab.

Bei der vorliegenden DVD wirken Details, Drastik der Handlung und Inszenierung insgesamt durch die Nahaufnahmen, die Mimik, Gestik und Emotionen der Protagonisten noch exzessiver zum Ausdruck bringen, noch plastischer und intensiver als vom Auditorium aus betrachtet. Auch so manches Schattenspiel bei den Gewaltszenen kann man so besser beobachten. Mit dazu bei trägt natürlich die immer am Brennpunkt bleibende Videoregie von Margaret Mitchell, teils auch aus der Vogelperspektive.

Das funktioniert aber auch nur, weil man erstklassige Singschauspieler zu Verfügung hat, die bis zur Selbstverleugnung mitmachen. Allen voran Barbara Hannigan. Sie ist die Agnès der Uraufführung und war auch in Wien zu erleben, eine expressive Frau, die phänomenal spielt und die klaren Vokallinien mit allen Spitzentönen exzellent singt. Christopher Purves ist der brutale Macho Protektor, besonders grausig, wenn er mit verzerrter Fratze seine Frau zwingt, das Herz weiter zu essen. Er singt ihn mit kräftigem, kernigem Bariton. Bejun Metha, momentan einer der weltbesten Countertenöre, ist ein Engel, der zum Boy mutiert und diesen glasklar und fassettenreich singt. Beide waren auch in Aix bei der Uraufführung dabei. In kleineren Rollen erlebt man noch, ebenfalls untadelig, Victoria Simmonds als Angel 2 beziehungsweise als Marie sowie Allan Clayton als Angel 3 und John.

Musikalisch ist eine faszinierende Klangwelt mit phänomenalen Farbmischungen, eine gekonnte Verschmelzung von Stilen zu erleben. Der bald 54-jährige George Benjamin gilt als einer der interessantesten und innovativsten britischen Komponisten der Gegenwart. Seine Tonsprache ist auch in dieser, seiner zweiten Oper polystilistisch und übersetzt jede Szene genial. Insgesamt so packend, dass man thrillerartig mitgerissen wird. Neben archaischen Klängen erklingen viele tonale Sequenzen, aber auch heftige Dissonanzen und schwebende Töne, die ebenfalls sehr bedrohlich wirken und sich von Szene zu Szene steigern. Expressiv, schrill aber auch atmosphärisch klangmalerisch. Extrem erotisch schwülstig etwa ist die Verführungsszene. Und immer wieder hört man den pochenden Herzschlag von der großen Trommel und exzessive, eruptive Ausbrüche.

Wie bei der Uraufführung im südfranzösischen Aix steht auch hier in Covent Garden der Komponist George Benjamin höchstpersönlich am Pult des Orchestra of the Royal Opera House. Die vielschichtige Partitur mit seltenen Instrumenten wie Viola da Gamba oder Glasharmonika und umfangreichem Schlagwerk wird mit Exaktheit und vielen subtilen Feinheiten umgesetzt. Es entsteht eine unwiderstehliche Sogwirkung mit Gänsehautfaktor.

Dem Publikum hat es ebenso wie in Wien uneingeschränkt gefallen, es jubelte!

Als Extras findet man auf der DVD ein kurzes Interview mit dem Komponisten sowie ein „Set Up“ von den Proben, worin neben Benjamin auch der Textdichter, die Regisseurin und einige der Protagonisten wie auch der Musikdirektor des Royal Opera House, Antonio Pappano, zu Wort kommen. Mehr als zufrieden muss man auch mit der beinahe exzellenten Tonaufnahme sein. Zudem gibt das Booklet aufschlussreiche Informationen über das Werk.

Helmut Christian Mayer

Fotos: Stephen Cummiskey