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DVD-Besprechung

Orpheus in der Unterwelt

6.8.2013


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Kamera
Ton

Chat-Faktor


Cover





 

 

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Frivoles Höllenspektakel

Jacques Offenbach nannte seinen Orpheus in der Unterwelt 1858 eine „Opéra bouffon“ und erzielte damit einen Bombenerfolg. 1874 brachte er eine zweite Fassung heraus, die er nun „Opéra-Féerie“ nannte und für die er mehrere neue Musikstücke verfasste. 1983 erstellten Götz Friedrich und Thomas Woitkewitsch für die Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin eine Art Mischfassung dieser beiden Originalvorlagen, wobei sie nicht nur in das dramaturgische Gerüst eingriffen, sondern auch den Dialogen eine neue Textgestalt gaben. Der Witz dieser „burlesken Oper“ besteht darin, dass fast alles aus einer anderen Perspektive gesehen wird: Der Seitensprung ist weitaus aufregender als die eheliche Treue, der Tod ist alles andere als traurig, der Himmel öde, die Hölle ein Ort des Glücks und des orgiastischen Rausches. Und so wird dem Berliner Publikum am Neujahrstag des Jahres 1984 ein frivoles und durchaus rasantes Höllenspektakel mit parodistischen Seitenhieben auf die gesellschaftlichen Ereignisse dieser Zeit präsentiert.

Regisseur Götz Friedrich hat mit sicherem Theaterinstinkt für das Machbare, mit großer Theater-Erfahrung und handwerklichem Geschick eine herrlich parodistische Opern-Burleske auf die Bühne gebracht. Sein Witz driftet nicht ins banale Operettenklischee ab, sondern ist hintergründig und spitzfindig. Mit Ironie und Augenzwinkern charakterisiert er die aktuelle deutsche Theaterlandschaft der frühen 1980-er Jahre. Ihm ist es zu verdanken, dass diese Inszenierung nicht zu einer Posse verkommt, sondern sogar noch 30 Jahre später aktueller denn je ist! Andreas Reinhardt hat für diese Inszenierung eine opulente und bunte Ausstattung arrangiert, die das Burleske und Frivole unterstreicht, ohne dabei billig zu sein.

Da ist zunächst die nymphomanische Musikergattin Eurydike, die lieber ein Schäferstündchen mit dem Nachbarn pflegt als auf ihren spießigen Musikergatten Orpheus zu warten, der seinerseits nur seine Kompositionen im Kopf hat. Der Nachbar und vermeintliche Schäfer Aristeus ist natürlich Pluto, der Höllenfürst, mit wunderbar französischem Akzent. Eine einvernehmliche Scheidung wäre das einfachste, wenn es da nicht die Öffentliche Meinung gäbe, die vor allem darauf drängt, den Schein zu wahren. Nun nimmt das Drama seinen Lauf. Da die Öffentliche Meinung eine Scheidung nicht zulässt, fällt Eurydike kurzerhand einem giftigen Schlangenbiss zum Opfer und wird von Pluto in die Unterwelt entführt. Zur selben Zeit herrscht Aufruhr im Hotel Olymp, das als ehemaliges Hotel Walhalla den Göttern eine Art Auszeit vom anstrengenden Herrschen vergönnt. Und Friedrich kann sich kleine Anspielungen auf Wagner nicht verkneifen. Neben der Intonation des Einzugs der Götter in Walhall aus dem Rheingold sind es vor allem die großen Wagner-Heroen Hans Beirer und Astrid Varnay, die als Götterehepaar Jupiter und Juno für großen Glanz sorgen.

Julia Migenes Johnson gefällt als kokett nymphomanische Eurydike mit gewagten Dessous und sicherer Intonation, leider aber nicht immer textverständlich. Donald Grobe gibt den Orpheus mit tenoralem Schmelz und witziger Jacques-Offenbach-Persiflage, der Konzertmeister Reinhold Wolf als sein kongeniales Double überzeugt mit inspirierendem Violin-Solo. George Shirley als Gentleman Pluto mit herrlichem französischen Einschlag überzeugt nicht nur durch seine spielerische Präsenz, sondern auch mit Belcanto-Gesang und tenoraler Strahlkraft. Hans Beirer steht mit 72 Jahren als Jupiter immer noch als Heldentenor auf der Bühne und begeistert durch seine stimmliche und körperliche Präsenz. Janis Martin überzeugt mit dramatischem Sopran als Diana, und auch die weiteren Götter sind mit großartigen Sängerdarstellern exzellent besetzt.

Helmuth Lohner verkörpert den Hans Styx als leicht vertrottelten Dummkopf mit Wiener Schmäh. Sein Couplet hat allerdings gefühlte drei Strophen zu viel. Mona Seefried als Öffentliche Meinung wird zum Publikumsliebling mit klarer Ansage und dominantem und facettenreichem Spiel.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin (DOB) unter Leitung von Jesús López Cobos hat sichtlich Vergnügen an dieser Aufführung. Das Vorspiel ist spritzig und temporeich, die Spannung ist da, und die einzelnen Orchestergruppen sind wunderbar differenziert. Der bekannte Teufelsgalopp gelingt furios. Der Opernchor ist von Walter Hagen-Groll musikalisch bestens einstudiert, und das Ballett-Ensemble der DOB, hervorragend choreografiert von Ivan Sertic, hat seinen großen Auftritt mit dem vom Publikum sehnsüchtig erwarteten Can Can, der, furios getanzt, wiederholt wahre Begeisterungsstürme hervorruft. Am Schluss reagiert das Publikum mit großer Begeisterung und langanhaltendem Applaus für Sänger, Chor, Ballett, Orchester und Dirigenten.

Der Mitschnitt dieser Aufführung, jetzt nach 30 Jahren auf DVD bei Arthaus zu haben, ist für Offenbach-Fans und Anhänger von Götz Friedrich fast schon ein Muss. Insbesondere der Auftritt großer Sängerpersönlichkeiten wie Hans Beirer und Astrid Varnay veredeln diese Aufnahme. Tonabmischung und Kameraführung sind nicht zu beanstanden, für die exzellente Bildregie ist Brian Large hervorzuheben. Einziger Wehrmutstropfen ist die an eine alte Video-Aufnahme erinnernde Bildqualität, die aber den Gesamteindruck dieser Aufnahme nur kurz beeinträchtigt. Eine Rarität dieser Aufnahme sind die Pauseninterviews mit Regisseur, Sängern und Dirigenten, was nach 30 Jahren schon historischen Wert hat.

Andreas H. Hölscher

Foto: Kranichphoto