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 DVD-Besprechung

Heavenly Voices
- The Legacy of Farinelli

4.2.2014

 

 

Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Kamera

Ton

Chat-Faktor


Cover

 

 

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Der Mythos vom Kastraten

Das Thema Kastraten auf der Opernbühne umweht, bedingt durch historisch bedingte Wissenslücken, nach wie vor ein Hauch von Sensationsgier, Faszination, Abscheu vor der grausamen Praxis, aber auch eine Glorifizierung einer Stimm-Art, die wir uns heute nur bedingt vorstellen können. Die einzig existierenden Tonaufnahmen eines der letzten Kastraten, Allessandro Moreschi, von 1903/4 sind aufnahmetechnisch von schlechter Qualität und geprägt vom Zeitkolorit, so zum Beispiel das auch auf dieser DVD gezeigte Ave Maria, das mit Schluchzern und Tremolo gewöhnungsbedürftig klingt. So ranken sich Legenden und Gerüchte um diese angeblich himmlisch klingenden Stimmen und frenetisch umjubelten Stars; von Männern wie Frauen begehrt, bewundert und doch mit einem schrecklichen Schicksal geschlagen. Der Versuch, den Stimmumfang eines Kastraten zu rekonstruieren, wurde beispielsweise im Film Farinelli von 1994 unternommen, für den die Stimmen der Koloratur-Sopranistin Ewa Małas-Godlewska und des Countertenors Derek Lee Ragin digital gemischt wurden. Zwar belegen zurzeit zahlreiche, sich dezidiert auf das meist für bestimmte Kastraten komponierte Arien-Material berufende CD-Aufnahmen bekannter Countertenöre, dass diese sich als Nachfolger der damaligen Gesangs-Stars sehen. Zwar erreichen Countertenöre nicht denselben Stimmumfang, haben aber ebenso die Fähigkeit, mit einer hohen Stimme zu bezaubern und zu faszinieren. Licht ins Dunkel und zumindest die Beantwortung einiger Fragen will die Dokumentation Heavenly Voices mit dem Untertitel The Legacy of Farinelli bringen.

Durch die Dokumentation schlingt sich ein narrativer Faden, geprägt von Gesprächen mit den Countertenören Philippe Jaroussky, Max Emanuel Cencik und dem italienischen Allround-Künstler Ernesto Tomasini. Aber auch viele andere versierte Sänger geben Kostproben und berichten aus ihrer Erfahrung. Zudem kommen Stimm-Experten und Musikwissenschaftler zu Wort. Doch eigentlicher Mittelpunkt ist die Musik, die immer beispielhaft berühmte und historisch wichtige Aufnahmen ab den 1970-ern bis heute und auch wenige Beispiele aus der Pop-Musik bringt. Am Anfang und Ende steht das Projekt, das Max Emanuel Cencik ins Leben gerufen hat: Die Aufnahme Leonardo Vincis Artaserse mit Concerto Köln unter Diego Fasolis schließt die DVD, so dass man den Eindruck gewinnen könnte, es würde ordentlich die Werbetrommel für dieses Projekt und seine Sänger gerührt. Und da liegt der Haken. Der Zugang zu einem historischen, heute nicht mehr zu rekonstruierenden Thema durch Interviews ist schwierig. Diese Dokumentation versucht nicht nur über Countertenöre, aber auch nicht nur über Kastraten zu berichten. Es wird versucht, dem Phänomen der heute wieder faszinierenden hohen Männerstimme nachzugehen und zeichnet ein breites Bild, das einen guten Überblick über Geschichte, Musik und heutige Vertreter, eben die Erben Farinellis, zeigt. Wer sich den Film als reine Dokumentation über das Dasein, Leben und Schicksal der Kastraten wünscht, der dürfte enttäuscht werden. Der Untertitel The legacy of Farinelli gibt eher das wieder, was diese DVD ausmacht: und zwar einen Blick auf die historischen Kastraten aus heutiger Zeit und vor allem das mit der Rezeption verbundene Wiederaufleben und die Wiederannäherung an die Musik, vornehmlich des Barock. Besonders die vielfältigen Musikbeispiele machen diese DVD sehens- und auch hörenswert, denn man hat die Gelegenheit, viele auch technisch unterschiedliche Ansätze kennenzulernen. Da ist kein Countertenor wie der andere, der eine hat sich das Singen bei Opernsängerinnen abgehört, der andere führt nahtlos seinen Knabensopran durch den Stimmbruch. Dementsprechend breit ist das Feld der Stimmfarben.

Im Focus stehen die mit teils ungewöhnlicher Kameraführung und vielen Close-Ups geprägten Bilder. Schön ist, dass sich die Macher nicht nur auf den „klassischen“ Bereich erstrecken, sondern auch den Pop-Bereich mit einbeziehen. Wer kennt nicht die hohen und als sexy geltenden Stimmen vom Lead-Sänger der Beachboys oder Prince? So finden Männer mit hohen Stimmen immer wieder neue Nischen, die sich nicht nur auf das Repertoire der Kastraten beschränken, sondern ständig neue Ausdrucksmöglichkeiten finden.

Das Bonus-Material zeigt vier zentrale Beispiel-Einspielungen aus dem Film, die man sich in Ruhe noch mal in voller Länge ansehen kann. Insgesamt ein spannender Film, der sowohl Skeptikern als auch Fans den exotischen, metro-sexuellen Gesang der Farinellis von heute nahebringt.

Miriam Rosenbohm

Fotos: Tico Film