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DVD-Besprechung

Don Giovanni

16.7.2013


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Kamera
Ton

Chat-Faktor


Cover





 

 

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Der Verführer im Familiendrama

Den Schlussapplaus werden einige Zuschauer, die die Live-Übertragung des Don Giovanni Anfang Juli 2010 verfolgt haben, anders in Erinnerung haben, als es nun die DVD vorgaukelt. Damals hörte man schon während der Vorstellung beim Festival Aix-en-Provence einige Unmutsbekundungen, die ihren Höhepunkt am Ende erreichten, als Dmitri Tcherniakov die Bühne betrat. Der russische Regisseur verlegt die Handlung um Mozarts vielschichtigen Verführer in ein Familiendrama. Tcherniakov verändert dabei nicht nur den zeitlichen Ablauf der Handlung – Einblendungen sagen, dass Tage oder sogar Wochen zwischen den einzelnen Szenen liegen – sondern auch die Beziehungen der Protagonistin. Ausgehend vom Familienpatriarchen, dem Komtur, und seiner Tochter Donna Anna, ist Zerlina ihre Tochter aus erster Ehe, und Donna Elvira eine Cousine von Donna Anna. Leporello ist ebenso ein entfernter Verwandter der Familie. Der junge Taugenichts lernt Don Giovanni, den Noch-Ehemann von Donna Elvira, während der Ouvertüre bei einem Familientreffen kennen und ist vom ersten Augenblick an ganz angetan von dieser Person. Hier zeigt sich bereits die große Stärke von Tcherniakovs Regie: Die Körpersprache der Sänger, die gesamte Personenführung ist dermaßen ausgefeilt, dass man die Aufführung mehrere Male sehen und neue Details entdecken kann. Allerdings werden bei mehrmaligem Anschauen auch die Schwächen des Konzepts deutlich, das mehrere Male Diskrepanzen mit dem Text hat. So werden beispielsweise Donna Elvira und Masetto mit in die Verkleidungsgeschichte des zweiten Aktes einbezogen. Zudem wirken einige Szenen eher gekünstelt; etwa wenn Don Giovanni sein Lebenskonzept Viva la libertà so umsetzt, dass er die Familienmitglieder dazu bringt, sich innig zu küssen, Don Ottavio und Masetto mit eingeschlossen. Das gibt dem ganzen Rahmen zu viel lähmende Tiefenpsychologie. Auch die von Tcherniakov entworfene Hausbibliothek, in der die gesamte Handlung spielt, ist auf Dauer etwas ermüdend, wird aber von Gleb Filshtinsky schön tageszeitabhängig ausgeleuchtet.

Spannend dagegen ist die Sicht auf den Schürzenjäger, der in diesem Falle nur noch ein Schatten seiner selbst ist, und trotzdem die gesamte Umwelt an sich zieht. Nur so ist es zu erklären, dass Don Giovanni in dem Haus ein- und ausgehen kann, in dem er die Frauen der Reihe nach verführt und einen Menschen umgebracht hat – wenn auch versehentlich. Dieser Don Giovanni benötigt für sein Ende keine Höllenfahrt, denn sein Leben ist nach dem Tod des Komturs die Hölle. Urplötzlich bricht der manisch-depressive Mensch mit einem Alkoholproblem in den Rausch der Champagnerarie aus. Gebrochen stiert er vor sich hin, sieht den Geist des Komturs vor sich, wiegt sich selbst beim einsamen Tanz zur Serenade. Der Familienclan entledigt sich des schwarzen Schafes, in dem sie einen Schauspieler und das schwache Herz des Verführers nutzen. Wenn der Clan am Ende scheinheilig und selbst gebrochen auf den vernichteten, noch zuckenden Mann herabschaut, ist das einer der stärksten Momente der Produktion.

Das liegt natürlich auch viel an der szenischen Verausgabung von Bo Skovhus. Dass sein charismatischer Bariton nicht mehr Frische und Klang wie früher besitzt, passt in diesem Fall sogar zum Rollenportrait, das mit zum Besten gehört, was man von Skovhus bislang gesehen hat. Körperlich hat er einen Leporello auf Augenhöhe an seiner Seite, sängerisch ist ihm Kyle Ketelsen mit ausgeglichener, nuancierter Stimme überlegen. Colin Balzer darf als Don Ottavio die Rache an Don Giovanni in die Wege leiten, aber ihm fehlt dafür das stimmliche Selbstbewusstsein. Überzeugender ist seine lyrische Linie. Umgekehrt ist es bei Anatoli Kotscherga, der als Komtur gewaltig, aber auch etwas ungehobelt klingt. David Bizic ist ein recht solider Masetto. Seine Frau Zerlina hat mit Kerstin Avemo eine interessante Sängerin zu bieten, die eine etwas spitze Höhe mit kluger Gestaltung kompensiert. Um den Rang der Diva streiten sich in dieser Produktion Kristine Opolais und Marlis Petersen als Donna Elvira und Donna Anna. Beide verfügen über körperlich attraktive Erscheinungen und über angenehme Stimmen, die aber nicht immer sicher in der Intonation klingen und auch manche Schärfen im Forte nicht kaschieren können. Insgesamt aber ein recht zufriedenstellendes Ensemble, das einen hervorragenden Dirigenten hat. Dirigent Louis Langrée entfacht ein Feuer der historischen Aufführungspraxis. Das etwas trocken klingende, aber fulminant aufspielende Freiburger Barockorchester übernimmt seine Akzente und Tempi gerne und begleitet mit Verve. Mit dieser Interpretation bekommt die menschliche Szene noch einen Hauch von romantischer Mystik.

Die musikalische Seite wird vom Publikum weitgehend sehr wohlwollend beklatscht, doch auch Bo Skovhus bekommt schon bei der Premiere leichten Widerspruch. Warum man die eher ablehnende Haltung des Premierenpublikums auf DVD nicht erleben darf, ist ein Armutszeugnis. Man muss einfach annehmen, dass Tcherniakov mit dieser Interpretation bewusst polarisieren will. Somit stellt die vermutlich aus anderen Aufführungen mitgeschnittene Zuschauer-Reaktion nur ein Geisterpublikum dar. Immerhin sind der Ton und die szenenbewusste Kameraführung sehr ordentlich und machen, wie der Bonus-Beitrag Don Giovanni in Aix-en-Provence, Lust auf Mozarts Meisterwerk. Tcherniakovs Interpretation ist zumindest für die Liste der Neudeutungen der Oper ein wichtiger Beitrag gelungen.

Christoph Broermann

Fotos: ARTCOMART/Pascal Victor