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Buchbesprechung

Gelungenes Debüt


Dorothea Renckhoff


Dorothea Renckhoff, geboren 1949 im Ruhrgebiet, arbeitete nach dem Studium als Dramaturgin an verschiedenen deutschen Bühnen. Heute lebt sie als freie Autorin in Köln und hat unter anderem Opernlibretti, Hörspiele und Theaterstücke veröffentlicht. Verfallen ist ihr erster Roman.


Kaufinformationen

Dorothea Renckhoff: Verfallen

berlin university press

ISBN 978-3-86280-076-6

Hardcover, 178 Seiten, 20 Euro


Points of Honor                      

Buchidee

Stil

Erkenntnis

Preis/Leistung

Verarbeitung

Chat-Faktor


 

 

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Zauber der Oper

1979 gab es ein Phänomen, von dem seither in dieser Form nicht mehr berichtet wurde. Menschen schlugen ein mehr als 400 Seiten starkes Buch auf, begannen zu lesen und hörten nicht mehr auf, bis sie die wechselnde rot-grüne Schrift auf der letzten Seite verschlungen hatten. Michael Ende hatte Die unendliche Geschichte veröffentlicht. Damals gab es kein Internet, dennoch warnten Pädagogen vor der Reizüberflutung – durch das Fernsehen. Und sie sahen die ernsthafte Gefahr, dass die Menschen keine Bücher mehr läsen. Ende widerlegte sie, indem er einen fantasievollen, bis dahin nicht gekannten Stoff schuf, der die Menschen von Eduard Zimmermanns XY ungelöst wie von der Tagesschau abhielt.

Diese Gefahr besteht bei Dorothea Renckhoffs 176-seitigem Roman Verfallen sicher nicht mehr, muss er sich doch einer anderen Informationsflut als vor 35 Jahren aussetzen. Kultcharakter wird dieses Buch mit seinem vieldeutigen Titel möglicherweise trotzdem erfahren. Denn auch diesen Roman wird keiner mehr aus der Hand legen, der einmal begonnen hat, ihn zu lesen. Es sei denn, höhere Widerstände wie eingehende E-Mails, What’s-App-Nachrichten oder sms zwängen ihn dazu. Aber es müssen dann schon verdammt wichtige E-Mails sein.

Der 15-jährige, namenlose Ich-Erzähler sieht aus wie ein 19-Jähriger, kämpft vergeblich um die erste, nicht standesgemäße Liebe. Daraus resultiert der Beginn einer fantastischen Reise. Er lernt die zarte Lucille kennen, die nur einen Wunsch hat: Sie möchte Opernsängerin werden. Bald verbindet die beiden eine Freundschaft, die vertrauensvoller als das ist, was man oberflächlich in einer Beziehung sucht. Die beiden altern innerhalb eines knappen Jahres um ein Menschenleben, und ihr Abschied vollzieht sich still und leise, dass einem die Tränen der Rührung über so viel Zartheit in die Augen treten mögen.

Renckhoff nimmt uns mit auf eine Odyssee, die stellenweise Züge eines LSD-Trips annimmt, vom Gesellschaftsroman in eine wunderbare Zaubergeschichte kippt, um das eigentliche Geschehen nach und nach krimiähnlich zu enthüllen. Gewiss reicht der Stil nicht an das Niveau der Geschichte ohne Ende heran, sind einige Passagen doch zu sehr schon als Szenen eines künftigen Drehbuchs formuliert, fehlt es hie und da an der nötigen Tiefe. Aber das tut der Faszination der Geschichte keinen Abbruch.

Die Botschaft des bei University Press Berlin erschienenen Buchs wird allzu klar und moralisierend: Du bekommst als Opernsänger deine Stimme nicht geschenkt, sondern musst sie dir erarbeiten. Sonst liegt nichts Gutes darauf und wird sich rächen. Klar, dass das für andere Berufe ebenfalls gilt. Aber das ist eben das Schöne bei Büchern. Es gibt die einen, die sich um den tiefen, philosophischen Sinn mühen, und es gibt die anderen, die einfach eine spannende Geschichte erzählen. Letztere sind es im Allgemeinen, die mehr Spaß machen.

Dass Renckhoff das Stück mit den Besonderheiten des Sängerinnen-Daseins in der Oper würzt, verschafft dem Buch zusätzlichen Reiz vor allem für die Schar des Opernpublikums. Und die dürfte sich mit dieser Geschichte bestens identifizieren können. Bietet doch das Buch selbst genügend Stoff für eine fantastische Oper, auch oder gerade, weil es eine endliche Geschichte ist.

Michael S. Zerban, 5.10.2014