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Buchbesprechung

Uralte Diskussion


Autorin



Melanie Hinz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur an der Universität Hildesheim mit dem Schwerpunkt Theater und Geschlechterforschung in Theorie und Praxis. Seit dem Wintersemester 2013/14 vertritt die promovierte Theaterwissenschaftlerin an der FH Dortmund die Professur »Ästhetische Bildung in den szenischen Künsten.«
Sie ist Gründungsmitglied des Performance-Kollektivs »Fräulein Wunder AG« und arbeitet als Performerin und Regisseurin.


Kaufinformationen

Melanie Hinz: Das Theater der Prostitution - Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart

transcript Verlag

ISBN 978-3-8376-2467-0

Paperback, 264 Seiten, 33 Euro


Points of Honor                      

Buchidee

Stil

Erkenntnis

Preis/Leistung

Verarbeitung

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Prekäre Verhältnisse

Melanie Hinz hat mit ihrer Dissertation Das Theater der Prostitution – Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart, die bei transcript verlegt wurde, nach Verlagsangaben „zur Grundlegung einer genderkritischen Theaterwissenschaft“ beigetragen. Das mag so sein. So ganz überzeugend ist es aus männlicher Sicht nicht. Nichts anderes haben wir erwartet, werden jetzt die so genannten „Gender-Forscherinnen“ rufen. Aber langsam. Zunächst einmal ist es ein Titel, der möglicherweise beide Geschlechter ansprechen soll – also dürfen sich auch beide dazu äußern. Zum andern gibt es möglicherweise eine sachliche Ebene, auf der man, na gut, Mann, Stellung beziehen kann. Das soll hier versucht werden.

Hinz hat ein rund 260 Seiten starkes Werk verfasst, das die Anforderung erfüllen muss, erkennen zu lassen, dass die Doktorandin sich in ausreichender Tiefe und mit wissenschaftlicher Sorgfalt dem Thema gewidmet hat. Darunter wird in Deutschland leider bis heute auch verstanden, dass sie sich in einer Sprache auszudrücken hat, die dem wissenschaftlichen Duktus folgt. Und Hinz gibt sich alle Mühe, diesen Anforderungen gerecht zu werden. So ist hier viel von Diskursen die Rede, ohne dem Begriff als solchem Inhalt zu verleihen. Holen wir das also hier nach. Unter Diskurs kann einerseits ein erörternder Vortrag, andererseits auch ein Dialog verstanden werden. Indem die Autorin sich auf Diskurstheorien zurückzieht, ohne den Begriff als solchen zu definieren – und der Definitionen gibt es viele – verwiesen sei hier beispielsweise auf Habermas, Lyotard oder Foucault, führt sie den Leser in die Ungewissheit. Aber es klingt wichtig.

Versuchen wir also, jenseits dieser Fragestellung zu erkennen, worum es Hinz eigentlich geht. Immerhin konstruiert sie eine Ökonomie des Begehrens und bedient sich dabei allzu beliebig ausgewählter Beispiele wie eines Bildes oder einzelner Aufführungen, während sie Theorien längst vergangener Zeiten ausdiskutiert. Nun kann man dem historischen Prozess ja durchaus Erkenntnisse für die Gegenwart abgewinnen – und würde insofern dem Diskurs (sic!) eine nach vorn gerichtete Diskussion abverlangen. Allein, das ist nicht zu erkennen. Nimmt man vielleicht jenen letzten Satz aus dem Buch aus: „Eine Ökonomie des Begehrens plädiert damit auch für einen erweiterten Blickwinkel auf Produktionsverhältnisse am Theater im Ineinanderwirken von Kunstproduktion, gesellschaftlich formierten Begehren an Subjekten, ihrer Körperlichkeit, Sexualität und Geschlechtsidentität sowie soziookönomischer  Verhältnisse.“

Bis vor einigen Jahren krankte sowohl die Berichterstattung als auch die Forschung zur Prostitution daran, dass stets nur über die Sexarbeiter gesprochen wurde anstatt mit ihnen. Melanie Hinz behält diese Perspektive bei, wenn sie die Arbeit von Schauspielerinnen mit der von Prostituierten vergleicht. Ein echter Erkenntnisgewinn muss diesem Blickwinkel allerdings versagt bleiben.

Immerhin bewirken die Ausführungen von Hinz eines: Man hinterfragt die Rolle des Publikums und damit die des einzelnen – männlichen – Rezipienten. Weshalb gehe ich eigentlich ins Theater, in die Oper und weshalb zu einem, zu einer Prostituierten? Geht es beim Besuch des Sexarbeiters um die konkrete körperliche Befriedigung und mag das möglicherweise sogar noch für das Theater um 1900 gelten – vielleicht tatsächlich aus einer ökonomischen Zwangslage der Schauspielerin heraus – dürfte der Theaterbesuch der Gegenwart doch eher vom Wunsch einer sinnlichen oder ästhetischen Erfahrung geprägt sein. Diese Ebene aber entzieht sich dem Modell von einer Ökonomie des Begehrens. Und insofern entzieht sich die Schauspielerin der Gegenwart dem Vergleich zur Prostituierten zumindest insoweit, als sich alle Dienstleistungsberufe mit der Prostitution vergleichen lassen.

Vielleicht sehen Gender-Forscher in dem Werk einen Beitrag zu ihrem Untersuchungsgegenstand. Alle anderen können sich die Lektüre sparen und die so gewonnene Zeit lieber auf einen Theaterbesuch verwenden. Da ist der sinnliche Genuss größer.

Michael S. Zerban, 20.2.2015