Archiv     Kommentare     Dossier     Backstage     Kleinanzeigen     Links     Buch/DVD     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
 Partner von DuMont Reiseverlag  
 
     

Buchbesprechung

Paul Abraham - Der tragische König der Operette


Autor



Der gelernte Journalist und ehemalige Rowohlt-Lektor Klaus Waller legt mit diesem Paul-Abraham-Porträt erneut eine Biographie vor. 1998 hat er zusammen mit Volker Herres, dem heutigen ARD-Programmdirektor, im Econ Verlag unter dem Titel Der Weg nach oben den Aufstieg des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder beschrieben. Insgesamt ist Waller Autor von mehr als 15 Büchern und Herausgeber von fast 200 Büchern.


Kaufinformationen

Klaus Waller: Paul Abraham - Der tragische König der Operette

Books on Demand

ISBN 978-3-7357-6311-2

Paperback, 240 Seiten, 15 Euro


Points of Honor                      

Buchidee

Stil

Erkenntnis

Preis/Leistung

Verarbeitung

Chat-Faktor


 

 

zurück       Leserbrief

Der traurige Held

6. Mai 1960. In der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf stirbt ein Mann an einem bösartigen Hautkrebs. Er wird später auf dem Friedhof Ohlsdorf beigesetzt. Vier Jahre zuvor war er bereits in der Psychiatrie des Klinikums behandelt worden. Auf seine geistige Erkrankung hatte schon 1946 eine höchst irritierende Begebenheit auf einer belebten New Yorker Straße schließen lassen. Der Verwirrte dirigiert wie in Trance ein imaginäres Orchester. Der Mann, der zunächst in ein Hospital in Manhattan und danach in eine psychiatrische Anstalt auf Long Island eingewiesen wird, ist Paul Abraham. Er ist im Berlin der 1930-er Jahre der populärste Operettenkomponist seiner Epoche. Für das Dirigat im fließenden Straßenverkehr, schreibt Klaus Waller, der Autor der ersten umfassenden Abraham-Biographie, seien keine Augenzeugenberichte zu finden. „Aber die Szene wurde über die Jahre zu einem ikonographischen Symbol für das tragische Schicksal Paul Abrahams und vieler seiner exilierten Leidensgenossen.“

1930 wirkt der in der donauschwäbischen Gemeinde Apatin als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geborene Abraham als Kapellmeister am Hauptstädtischen Operettentheater in Budapest. Im selben Jahr wird dort seine Komposition Viktoria und ihr Husar uraufgeführt, mit durchschlagendem Erfolg. In Deutschland pfeift man sein Lied Bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier aus dem ersten UFA-Tonfilm Melodie des Herzens auf den Straßen. Ebenfalls 1930 erfolgt die Übersiedlung nach Berlin. Hier wird er mit der Blume von Hawaii und dem Ball im Savoy zum Star der brodelnden Operettenszene der Hauptstadt und Schöpfer der gefragtesten musikalischen Bühnenstücke in Europa. Er schreibt zudem Hits für zahlreiche Filmproduktionen.

1933, nach nicht einmal zweieinhalb Jahren „Regentschaft“ als „König der Operette“, schreibt Waller, erfolgt der brutale Bruch im wirklichen und im Künstlerleben. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten, die Ächtung der Musik Abrahams, die erzwungene Rückkehr nach Budapest und ein kurzes Intermezzo in Wien, wo er noch die Märchen im Grandhotel, Dschainah sowie Roxy und ihr Wunderteam herausbringt. Dann die Flucht nach Paris, später über Kuba nach New York. Doch die Neue Welt wartet auf niemanden aus der Alten. Abraham unternimmt etliche Versuche, seinen in Europa innovativen, etwa jazzaffinen Stil mit den Standards des US-Musikbusiness, vor allem dem Musical, in Einklang zu bringen. Vereinzelte Versuche führen letztlich zum Scheitern. Er erfüllt weder die Erwartungen der Manager noch die des Publikums. Nicht in New York, für ihn „das Paradies als Hölle“, nicht in Hollywood.

Waller nennt seinen Protagonisten den „Tragischen König der Operette“. Eine Formel, deren plakativer Stream eigentlich quer liegt zur Komplexität des Stoffes, den der Autor nach fast zweijähriger Beschäftigung mit seinem Sujet und einer Reihe von Artikeln für Wikipedia über vom NS-Regime verfolgte Künstler zusammengetragen hat. Schon die Krankheitsgeschichte Abrahams sperrt sich auf befremdende Weise gegen die verbreiteten Klischees über die Operette, in der scheinbar alles Ernsthafte im Walzer-Takt aus dem Zwang zum Wahrhaben eliminiert wird. Von mythischer Wucht ist die Figur Abrahams zweifelsohne, wenn in Wallers Biographie die auf- und nachgezeichnete individuelle Zerstörung einer Künstlerexistenz exemplarisch die komplette Auslöschung einer ganzen Musikrichtung bewusst macht. Stagnation und Diskriminierung bis heute? „Ich bin überzeugt: Hätte es in Deutschland nicht die Nazi-Barbarei gegeben, wären auch die deutschen Komponisten nach und nach in die Musicalrichtung gegangen, und es hätte diesen Bruch, der uns heute die ‚antiquierte Operette‘ vom ‚modernen Musical‘ unterscheiden lässt, nicht gegeben“, sagt der Autor. Abraham sei prädestiniert dafür gewesen, „diese Brücke zu bilden“.

Prädestiniert übrigens wohl auch für die heutige Symbiose von Musik- und Medienzirkus. Zu den eigentümlichsten Aspekten, denen der Autor in Akademien, Archiven und Bibliotheken von Berlin bis Budapest in der Persönlichkeit Abrahams auf die Schliche gekommen ist, gehört der Hang des Umschwärmten zur Selbstinszenierung. „Sein Lebensstil war einzigartig und wurde geradezu dandyhaft zelebriert“, heißt es in einer Passage Wallers zur Berliner Glanzzeit seines Helden. „Da passte doch die Meldung, er habe sich auf einen Schlag 60 Anzüge und dazu 300 Hemden gekauft.“ Und weiter: „Er leistete sich einen Chauffeur, angeblich acht Luxusautos und inszenierte sich insgesamt so operettenhaft, dass es auch unsere heutige Yellow Press begeistert hätte.“ Abraham, so Waller, habe sein Image erfunden, „nicht nach Fakten, sondern wohl danach, wie das Publikum seiner Meinung nach ihn als Komponisten sehen sollte“. Bei Youtube und Buzzfeed wäre der kalkulierende Feinsinnige aus dem Donauschwäbischen heute ein Star, ganz sicher.

Des Autors verdienstvolle Auseinandersetzung mit dem Wegbereiter und Vollender der modernen Operette platzt in eine Phase, in der es dem „heiteren Pendant der Oper“ anscheinend prächtig geht. Neue Operettenseligkeit macht sich breit, nicht nur in den Nischen-Festivals vom Schlage Bad Ischls oder Mörbischs. Gleich ein Dutzend deutscher Musiktheater bringt zu Weihnachten und Silvester Operettenpremieren auf die Bühne. Anna Netrebko ist unter Thielemann die Galionsfigur der Czárdásfürstin in Dresden und im Fernsehen, Renée Fleming unter Andrew Davis die Lustige Witwe an der Met und in den Kinos weltweit. Und einmal mehr überzeugt Bo Skovhus als Graf Danilo in Köln im blauen Zelt. Schließlich gelingt Jonas Kaufmann mit seinen Operettenschlagern von Abraham bis Stolz eine in jeder Beziehung erfolgreiche Konzerttournee. Eine Neuentdeckung erfahren die großen Stoffe Abrahams seit einiger Zeit gerade in Deutschland. An der Komischen Oper Berlin bringt Hausherr Barrie Kosky eine Inszenierung von Ball im Savoy heraus. Die Medien reagieren verzückt. Ein neues jüngeres Publikum entdeckt, was die Großeltern im Berlin des boomenden Revuetheaters bereits in ihren Bann schlug. Das Musiktheater Dortmund engagiert sich für die deutsche Erstaufführung der Fußball-Operette Roxy und ihrWunderteam. Auch hier, unweit des Fußballstadions mit der größten Zuschauerkapazität in Deutschland, erlebt das Stück mehr als eine flüchtige Zustimmung, zumal bei den Jüngeren.

Auf ein neues Publikum setzt Waller nicht zuletzt, soll dem schillernden Genre der Operette generell und Abraham speziell eine neue Zukunft erschlossen werden. Eine Zukunft, die nicht von kurzatmigen PR-Tourneen abhängig sein soll, die lediglich das eh noch vorhandene, aber kleiner werdende traditionelle Operettenpublikum bedient. Eine Zukunft, die sich auch der Lebensgeschichten ihrer traurigen Helden wie Abraham vergewissert. In dieser nach vorn gerichteten Dimension liegt ein großer Wert der Veröffentlichung Wallers, für manchen Liebhaber des Genres vielleicht der eigentliche. Sein Buch beeindruckt im Übrigen durch eine große Anzahl an, häufig auch neu erschlossenen Quellen und ihre sorgfältige, fast schon akribische Aufarbeitung. Nicht zuletzt dürfte die Leserschaft von der Professionalität des Journalisten Waller profitieren. Sein Buch liest sich über Passagen wie eine klassische Reportage. Das braucht wohl auch die Operette. Kolportage kennt sie genug.

Ralf Siepmann, 19.1.2015