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Buchbesprechung

Oper ist kein Mainstream


Gerard Mortier


Gerard Mortier, geboren am 25. November 1943 in Gent, studierte Jura und nach der Promotion Kommunikationswissenschaften. 1981 übernahm er für zehn Jahre die Brüsseler Oper La Monnaie, wo er mit GMD Sylvain Cambreling ein neues Opernverständnis entwickelte. Nach Intendanzen der Salzburger Festspiele, der Ruhrtriennale und in Paris übernahm er 2010 die Intendanz des Teatro Real de Madrid. Mortier war Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Am 9. März 2014 verstarb er im Alter von 70 Jahren in Brüssel.


Kaufinformationen

Gerard Mortier: Dramaturgie einer Leidenschaft - Für ein Theater als Religion des Menschlichen

Bärenreiter Verlag

ISBN 978-3-476-02546-3

Hardcover, 126 Seiten, 25 Euro


Points of Honor                      

Buchidee

Stil

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Vermächtnis eines Leidenschaftlichen

Im Frühjahr 2014 erscheint auch die deutsche Ausgabe von Gerard Mortiers Dramaturgie d' une passion beziehungsweise Dramaturgia de una pasión. Es handelt sich jedoch nicht einfach um eine Übersetzung der seit 2009 und 2010 vorliegenden französischen und spanischen Editionen, sondern um eine aktualisierte und erweiterte Fassung. Mit Mortiers Tod am 9. März 2014 im Alter von 70 Jahren entwickelt sich das Buch auch zu einem engagierten Vermächtnis und ist biografische Erinnerung, intellektuelle Selbstvergewisserung und Kampfschrift zugleich.

Der knappe und konzise Text ist flüssig geschrieben – wer Gerard Mortier einmal persönlich erlebt hat, hört ihn geradezu reden. Sieben Essays zu Fragen der Dramaturgie, alle motiviert von der Leitfrage "Wozu und wie Theater machen?", sind locker verbunden mit biografischen Rückblicken, musik- und inszenierungsgeschichtlichen Exkursen und durchsetzt von zahlreichen programmatischen Statements.

Oper und Theater sind nur sinnvoll als „moralische Anstalt“, als Warnung und Vision. Mortier vertritt eine Auffassung ganz im Schillerschen und auch Brechtschen Sinne, Theater gilt ihm als wesentliches Element des Lebens. In einer mahnenden Einleitung beschreibt Mortier die Oper aktuell als eine gefährdete Gattung, die in Kommerz, oberflächlichen Starkult und einen inhaltsleeren Unterhaltungsbetrieb abgleitet. Er wertet das als Restauration. Besonders, aber nicht nur, geisselt er die sogenannte „erste Liga“ wie Bayreuth unter Katharina Wagner, Salzburg unter Perreira, Wien unter Meyer, Berlin mit Flimm und Kosky sowie ihre Anhänger, die er als die „so genannten Opernfreunde“ disqualifiziert. Restaurativ ist es deswegen, weil nach einer europaweiten großen, langen und progressiven Phase des Aufbruchs um Persönlichkeiten wie Peter Stein, Klaus Michael Grüber, Karl-Ernst Herrmann, Peter Brook, Giorgio Strehler, Ariana Mnouchkine bis hin zu Michael Haneke, Frank Castorf und Christoph Marthaler das Rad, oft unter Anleitung der Politik, in die Belanglosigkeit und Geläufigkeit zurückgedreht werde. Natürlich gibt es noch Ausnahmeopernhäuser, die sich verweigern, aber es sind wenige. Mortier nennt Frankfurt, Lyon, Stuttgart, die English National Opera als „Hoffnungsschimmer“, deren Leiter mit intelligenten Regisseuren wie Warlikowski, Tcherniakov und Kušej weiterhin abseits des kommerziellen Mainstreams eine exzellente Arbeit leisten. Sicher zählt zu diesen auch nach wie vor das Brüsseler Théâtre royale de la Monnaie, das seit der Mortier-Ära 1981 bis 1991 einen entschieden avantgardistischen Kurs einschlägt, der auch von seinen Nachfolgern Bernard Foccroulle 1992 bis 2007, heute Intendant des Festival d'Aix-en-Provence, und seitdem von Peter de Caluwe weiterhin verfolgt wird. Sein Programm und Arbeitsethos bringt Mortier so kurz wie anspruchsvoll auf den Punkt: „Theater machen bedeutet, die Routine des Alltäglichen zu durchbrechen, die Akzeptanz wirtschaftlicher, politischer und militärischer Gewalt in Frage zu stellen, die Gemeinschaft zu sensibilisieren für Fragen des menschlichen Daseins, die sich nicht durch Gesetze regeln lassen, und zu bekräftigen, dass die Welt besser sein kann, als sie ist. Theater machen ist also eine Sendung, ein priesterliches Amt beinahe, ohne darum eine Offenbarungsreligion zu sein. Das Theater ist eine Religion des Menschlichen.“ Für die Oper als Institution bedeutet das, „dass die öffentlichen Theater die Pflicht haben, die Menschenrechte geltend zu machen und ein Motor der Humanität zu sein“.

Angefangen hat alles bei Claudio Monteverdi, dem Mortier neben Verdi ein eigenes Kapitel widmet. Monteverdi habe der Entwicklung eines neuen theatralischen Genres „einen ganz unvergleichlichen Atem eingehaucht“, schreibt er. Diese Unvergleichlichkeit bestehe in der Verbindung von Wort und Musik, „in der Vernunft und Gefühl auf die gleiche Stufe gehoben werden sollen, um so in der theatralischen Aktion einen Ort für Reflexion und Emotion zu erschaffen“. In der Geburtsstunde der Gattung ist schon die besondere Qualität und Bestimmung festgelegt, die durch drei Elemente bestimmt ist: Dichtung, durch Musik unterstützten Gesang und Aktion.

Im Kapitel Dramaturgie der Architektur und des Ortes diskutiert Mortier die Vorzüge offener, kulturell unbesetzter Orte wie die umgenutzte Industriearchitektur der Ruhrtriennale im Unterschied zum Prachtbau der Pariser Oper im Palais Garnier. Bei der „Dramaturgie der Spiel-Pläne“ ist neben der richtigen Wahl des Spielortes für jedes Stück die Gesamtkonzeption einer ganzen Spielzeit entscheidend. Die vollzieht sich nicht nach Konzepten des Marketings, sondern Mortier legt sie an wie eine „Landschaft, die es gemeinsam mit dem Publikum zu erobern gilt“, es geht um eine sinnvolle, relationale Gesamtdramaturgie aller Stücke in einer Spielzeit. Ein besonderes Anliegen ist ihm die ganz selbstverständliche Integration der Werke des 20. Jahrhunderts, die immer noch viel zu selten aufgeführt werden, und selbstredend die Uraufführung neuer Werke. Noch kurz vor seinem Tode kann er am Teatro Real in Madrid die von ihm verantwortete und in der spanischen Presse vehement bekämpfte Uraufführung Brokeback Mountain von Charles Wuorinen erleben, die er im Wechsel mit der Sellars-Bill-Viola-Inszenierung von Tristan und Isolde zeigt, eine Übernahme aus seiner Pariser Zeit. Zwei Opern aus zwei unterschiedlichen Epochen zum selben Thema: der Unmöglichkeit von Liebe. Dass man mit einer intelligenten wie avancierten Programmierung das Publikum nicht verschreckt, sondern gewinnt, zeigt ein Blick auf die Zahlen. In Brüssel etwa steigern sich die verkaufen Abonnements pro Jahr von 2000 am Anfang der Intendanz 1981 auf 14000 am Ende 1992. Auch in Madrid, Uraufführungen und Aufführungen aktueller Werke sind dort immer noch rar, besuchen knapp 15000 Personen binnen zehn Tagen 2011 Olivier Messiaens Saint Francois d'Assise, die Übernahme der Ilya-Kabakov-Inszenierung der Ruhrtriennale von 2003.

Das Buch endet mit einem Verzeichnis des Lebenswerkes von Gerard Mortier, einer alphabetischen Auflistung aller von ihm verantworteten Opernproduktionen von 1981 bis 2014: angefangen von John Adams TheDeath of Klinghoffer unter Kent Nagano in der Regie von Peter Sellars 1991 in Brüssel bis hin zu Hans Zenders Stephen Climax, eine Brüsseler Uraufführung im Oktober 1990 unter Silvain Cambreling in der Regie von Peter Mussbach. Besucher seiner Intendanzen in Brüssel, Salzburg, bei der Ruhrtriennale, in Paris und zuletzt Madrid können mit dem Buch ihre Erinnerungen an eine ganze Epoche mit in der Regel herausragenden Produktionen vertiefen, sich an einen kämpferischen, oft anregend kontroversen, immer leidenschaftlichen Opernimpresario erinnern.

Dirk Ufermann, 31.8.2014