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Buchbesprechung

Unbedingt empfehlenswert


Autor



Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen, schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Tagebücher, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und Musik. Mehrere seiner Bücher wurden verfilmt und seine Werke wurden in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.


Kaufinformationen

Helmut Krausser: Alles ist gut

Berlin Verlag

ISBN 978-3-8270-1202-9

Gebunden, 240 Seiten, 20 Euro


Points of Honor                      

Buchidee

Stil

Erkenntnis

Preis/Leistung

Verarbeitung

Chat-Faktor


 

 

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Zwischen Reportage und Orgasmus

Das Blöde an guten Büchern ist, dass sie in ihrer Komplexität kaum wiederzugeben sind. Helmut Krausser hat jetzt so einen Roman vorgelegt. Alles ist gut handelt von einem – erfolglosen – Komponisten, dem Notenblätter in die Hand fallen, aus denen er eine genialische Musik ableitet. Parallel zur Gegenwartshandlung wird die Geschichte der Notenblätter aufgearbeitet. Schon nach den ersten Seiten wird klar, dass aus einem Scheiternden kein Gewinner werden wird. Marius Brandt wird, just bevor er die Portale zum großen Durchbruch aufstoßen kann, in seiner Romanwesenhaftigkeit zerrinnen. Zurückgestoßen in seine Romanwelt, in der es um all das geht, was einen männlichen Künstler beschäftigt: die Leidenschaft in allem Denken und Handeln. Sexuelle Obsession im explodierten Tagesrhythmus, Ekstase im künstlerischen Schaffensprozess, die rauschhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit unter Einfluss exzessiven Alkoholkonsums. Da ist auch Platz für Dämonen und die Verwischung von Fantasie und Wahn.

„Manch einem Leser muss man vielleicht erläutern, was ein Dramaturg am Theater eigentlich macht. Ich weiß es auch nicht so genau. Jedenfalls laufen Dramaturgen immer viel und aufgeregt herum und tun schrecklich überarbeitet, wobei sie betonen, einen 16-Stunden-Job ableisten zu müssen. Ich glaube, sie haben Angst, jemand könne aus Versehen dahinterkommen, dass sie eigentlich nicht wirklich benötigt werden und tatsächlich 16 Stunden im Monat arbeiten.“ Krausser lässt wenig gute Haare an Dramaturgen und Intendanten. Wer daraus das aus seinem Selbstmitleid resultierende Wehklagen des unerkannten Genies Brandt ableitet, wird nur zum Teil Recht haben, wenn er das Stilmittel meint.

Tatsächlich ist dieser Roman eine gründliche Abrechnung mit der zeitgenössischen Oper – und Krausser lässt keinen Zweifel an der eigenen Sicht der Dinge. „Eine andere, wahrscheinlichere Möglichkeit besteht darin, Preise zu gewinnen auf Wettbewerben. Denen leider allermeistens eine Jury vorsteht, die tonale Musik als Hochverrat an Adorno begreift und beim ersten Dur-Akkord Dünnpfiff und Fracksausen bekommt. Für diese Menschen existiert keine Krise der Oper, sie wurschteln einfach weiter, als gäbe es kein Morgen, in dem immer neue Generationen eines möglichen Publikums wegbrechen“, lässt Krausser den Ich-Erzähler Brandt über die Karrieremöglichkeiten eines Komponisten sinnieren. Und er nutzt die Freiheit des Romanciers, sich auch drastische Beispiele zu erlauben. „Wenn es darum geht, ob die Oper weiterlebt, mit populären Werken und ausverkauften Uraufführungen, zögen etliche Donaueschinger Ultras eher den Untergang vor, die komplette Marginalisierung moderner E-Musik, als ein irgendwie tonales Werk gutzuheißen. Hierin gleichen sie Hitler im Bunker, der das deutsche Volk anno ’45 für unwert befand, fürderhin zu existieren.“

Neotonalität statt Atonalität, lautet die Antwort des Schriftstellers auf die Frage, wie Oper wieder zur gesellschaftlichen Relevanz zurückfinden kann. Und hört man sich die Musik erfolgreicher Kinofilme der Gegenwart an, möchte man da nicht unmittelbar widersprechen, sondern zumindest mal in Ruhe darüber nachdenken.

Der Roman des Universalkünstlers Krausser sprengt Grenzen auf allen nur erdenklichen Ebenen – außer der des guten Geschmacks. Und so dürfen der Leser und die Leserin sich auf einen gekonnten Stilmix von knapp nach Kishon bis kurz vor Bukowski einlassen, der den Käufern des Buches weniger Spaß bereiten könnte: Allzu schnell hat man die knapp 240 Seiten des ordentlich gebundenen und mit Schutzumschlag und Kapitelband versehenen Buches gelesen – eine Pause erscheint einem da eher wie verlorene Zeit. Der Trost: Ein zweiter Durchgang wird vermutlich nicht weniger lustvoll zu genießen sein.

Michael S. Zerban, 10.8.2015