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Buchbesprechung

Lied und Oper


Autor



Neben einem Medizinstudium studierte Christian Gerhaher privat Gesang bei Raimund Grumbach und Paul Kuen und besuchte Meisterkurse bei Dietrich Fischer-Dieskau und Elisabeth Schwarzkopf. Wie kaum ein anderer setzt er seit Jahren gemeinsam mit seinem Klavierpartner Gerold Huber Maßstäbe in der Liedinterpretation - ihre Aufnahmen sind preisgekrönt. Das Schubert-Album Abendbilder erhielt 2006 den Gramophone Award. 2009 wurde er für das Schumann-Album Melancholie sowohl mit dem Echo Klassik "Sänger des Jahres" als auch mit dem BBC Music Award geehrt. Auf der Opernbühne ist Christian Gerhaher in ausgewählten Produktionen zu erleben. Orchester und Dirigenten von Weltrang zählen zu den musikalischen Partnern von Christian Gerhaher. Orchester wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks oder die Berliner Philharmoniker, aber auch die Gesellschaft der Musikfreunde Wien oder die Londoner Wigmore Hall wählten den Bariton zu ihrem Artist in Residence.


Kaufinformationen

Christian Gerhaher: "Halb Worte sind's, halb Melodie" - Gespräche mit Vera Baur

Verlagsgruppe Seemann Henschel

ISBN 978-3-89487-942-6

Hardcover, 192 Seiten, 23 Euro


Points of Honor                      

Buchidee

Stil

Erkenntnis

Preis/Leistung

Verarbeitung

Chat-Faktor


 

 

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Möge das Leben bloß kein Ponyhof sein

Bariton Christian Gerhaher hat sich seinen Ruf als Grübler und Zweifler erarbeitet, und gern nutzt er auch das in diesen Tagen erscheinende Buch Halb Worte sind’s, halb Melodie, dieses Image zu unterstreichen. Im Herbst 2012 lernte er anlässlich eines Interviews die Redakteurin Vera Baur kennen. Erwachsen ist daraus ein „Gesprächsbuch“, rund 190 Seiten stark und als Kooperation der Verlage Seemann Henschel und Bärenreiter veröffentlicht. Baur leitet aus diesem Begriff das Fehlen chronologischer Strukturen ab, was im Ergebnis nachvollziehbar ist und in Ordnung geht. Von einem Gespräch zu reden, ist aber wohl eher Ausdruck einer Form von Höflichkeit, übernimmt Baur erwartungsgemäß doch die Rolle der Stichwortgeberin.

„Wir könnten uns ja von Anfang an nur hinsetzen und irgendwelche Säfte durch uns durchrauschen lassen und so banal dann wieder dahinscheiden. Aber das empfinde ich als nicht menschlich. Gestorben ist man dann noch lange genug.“ Gerhaher gibt sich als Freund der Komplexität, wehrt sich durchgängig gegen Banalität, einfache Wahrheiten und vorschnelle Lösungen. Um dann immer wieder seine – mit Fragezeichen versehenen – eigenen Wahrheiten zu verkünden. Die gehören übrigens zu den starken Stellen im Buch, vor allem, wenn sie ausdrücklich das Fragezeichen weglassen. „Ich finde es überhaupt nicht nachvollziehbar und vollkommen inakzeptabel, einen Sänger auszubuhen, das geht nicht! In einer Opernproduktion musste ich einmal miterleben, wie der Darsteller der Titelpartie ausgebuht wurde, da haben wir anderen Sänger uns auf der Bühne beim Applaus einfach umgedreht.“ Solche Geschichten finden sich leider allzu wenige in den „Antworten“ des Sängers, obwohl Gerhaher sicher mehr davon zu berichten hätte. Stattdessen seitenlange Abhandlungen über Lieder. Bitte schön, das Lied will man von Gerhaher hören, nicht lesen. Viel mehr Spaß macht es, beispielsweise seine Einstellung zum Sport kennenzulernen. Explizit seine Meinung über Sportevents dürfte so manchen zum „Genau! Endlich mal jemand, der’s sagt“ animieren.

Erfrischend auch die Ansichten des Mittvierzigers zur Gesangsausbildung. Da wird Schluss gemacht mit manch althergebrachter Meinung über Glottisschlag und Stütze. Stattdessen gibt es Ordnungsrufe zur Textverständlichkeit – endlich einmal auch von einem, der es wirklich wissen muss. „Es wird leider häufig kolportiert, dass die geringere Vokalverständlichkeit bei den hohen Frauenstimmen im Hochtonbereich eine natürliche physiologische und physikalische Gegebenheit sei. Das muss schon allein deswegen falsch sein, weil es genügend Sopranistinnen gibt, die in ihren Vokalfarben über ihren gesamten Ambitus hinweg absolut verständlich und authentisch sind.“ Wie aber lernt man denn nun wirklich als Anfänger, die Qualität der eigenen Stimme zu erkennen? Gerhahers überzeugende Antwort: Gar nicht. „Durch Rückmeldungen von Lehrern, Kollegen, Dirigenten und mittlerweile natürlich auch mithilfe von Aufnahmegeräten lernt man langsam, damit umzugehen, aber es bleibt eine unabänderbare Tatsache, dass man nie wirklich verstehen wird, wie man selbst klingt. Das ist die einzige wirkliche Tragik des Gesangsberufs.“

Wirklich das einzige Dilemma? Wie viele andere bedient auch dieses Buch gerne die Klischees vom Sänger, der so beschäftigt ist, dass sich andere Berufsgruppen gar keine Vorstellungen von den Belastungen machen können. Das Mitleid hält sich aus Sicht des Müllwerkers, der in den Wintermonaten im Räumeinsatz und Schichtdienst ist, in Grenzen, ebenso wie aus dem Blickwinkel des Journalisten, der die Sänger begleitet und oft Arbeitszeiten hat, die jedem Anschein von Lebensqualität widersprechen, oder von vielen anderen Berufsgruppen. Wer hat heute noch den Acht-Stunden-Job, der einem das Auskommen sichert? Aber können wir der Arbeit möglicherweise – selbst ein gut beschäftigter Sänger – nicht etwas Gutes abgewinnen, anstatt ständig darüber zu klagen? „Man hält es vor allem deswegen aus, weil es zunächst einmal sein und seiner Familie Leben finanziert und natürlich auch, weil einem in diesem Beruf so viel Interessantes begegnet, man interessante Teile der Erde bereisen kann, man so viele fantastische Musiker, vor allem Dirigenten, kennenlernt – und weil man gemocht wird. Die Eitelkeit ist für den Künstler ja etwas Unverzichtbares, sie ist berufserhaltend. Man möchte nicht nur gut sein, damit man hört, wie toll man ist, sondern weil man weitere Engagements braucht, weil man weiter gefragt sein muss“, antwortet Gerhaher.

Und so bietet das Buch – vor allem für den Sängernachwuchs wie für Gerhaher- und Lied-Fans – eine ganze Reihe von knackigen Aussagen, die sich wohltuend vom sonstigen Allerlei abheben.

Michael S. Zerban, 20.2.2015