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Buchbesprechung

Dokumentarische Biografie


Autor



Boris Kehrmann hat Deutsche Sprach- und Literatur-, Theater- und Musikwissenschaft, Literaturkritik und Neuere Geschichte in Zürich, Albany und Berlin studiert. Publikationen zu Wagner, Offenbach, Fontane, Hofmannsthal, Exilliteratur sowie zur Musik- und Theatergeschichte. Arbeit als Publizist für zahlreiche Medien und Institutionen, Dramaturg und Übersetzer. Die vorliegende dokumentarische Biographie über Walter Felsenstein ist aus seiner Dissertation an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden hervorgegangen.


Kaufinformationen

Boris Kehrmann: Vom Expressionismus zum
verordneten „Realistischen
Musiktheater“ – Walter Felsenstein – Eine dokumentarische Biographie 1901 bis 1951

Tectum

ISBN 978-3-8288-3266-4

Hardcover, 1.372 Seiten, 80 Euro


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Buchidee

Stil

Erkenntnis

Preis/Leistung

Verarbeitung

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Wer Realität definiert

Auf der Liste deutscher Regisseure der Nachkriegszeit taucht der Name Walter Felsenstein, wenn überhaupt, dann nicht auf den vorderen Plätzen auf. Spätestens jedoch beim Thema Kunst und Künstler in der DDR, ganz sicher und unverzichtbar bei der Gründung, Entwicklung und den Versuchen der ideologischen Ausrichtung der Komischen Oper Berlin ist Walter Felsenstein ein unverzichtbarer Mitwirkender und Zeitzeuge. Der Tectum Verlag veröffentlicht 2015 die Forschungsarbeiten von Boris Kehrmann, der im Rahmen seiner Dissertation an der Universität Dresden die pauschalen Urteile über einen Künstler differenziert und korrigiert, der in zwei Diktaturen gelebt und gearbeitet hat. Mit über 1360 Seiten stellt diese zweibändige „dokumentarische Biographie“ ein richtiges Stück Arbeit dar – sowohl was die wissenschaftliche Arbeit des Verfassers betrifft, als auch hinsichtlich der Lektüre für den Leser.

Kehrmanns Absicht ist es, den 1901 in Wien geborenen und in der Weimarer Zeit groß gewordenen Künstler, Schauspieler und Regisseur, der sowohl in der NS-Zeit wie in der DDR gelebt und gearbeitet hat, vom Klischee des „Realisten“ ebenso zu befreien wie von dem, eine „Ikone der DDR“ gewesen zu sein. Kehrmann befasst sich mit einer Person, die „ drei verschiedene politisch-soziale Systeme durchlaufen“ hat und sich, so oder so, mit ihnen arrangierte, bevor er schließlich selbst „Opfer einer Diktatur“ wurde. Kehrmann entdeckt bei Felsenstein ein „radikaldemokratisches Theaterverständnis“, das er auch in der DDR durchgehalten habe. Zwar ist Felsenstein in die Opern- und Kunstliteratur durch seine Forderungen nach einem „Realistischen Musiktheater“ eingegangen, doch Kehrmann kann nachweisen, dass diese Vorstellungen weder bei Felsenstein noch bei anderen Mitdiskutanten besonders klar gewesen sind.

Das umfangreiche, sehr differenzierte Werk befasst sich intensiv und detailreich mit Leben, Werk und politischer Einordnung eines Künstlers, dessen politische Haltung zunächst in der k.u.k.-Monarchie Österreichs, dann in der Weimarer Republik, der NS-Zeit und schließlich dem Leben in der DDR geprägt ist. Hierzu kann er bislang unveröffentlichtes Material, Quellen, persönliche Briefe hinzu ziehen, die das bisherige Bild Felsensteins korrigieren. Besondere Aufmerksamkeit widmet Kehrmann Felsensteins Tätigkeit für die und an der Komischen Oper Berlin, an der er als Gründer, Intendant und Chefregisseur wirkte.

Kehrmann legt seine Untersuchung biographisch-historisch an, ergänzt sie vielfach durch sachdienliche Exkurse. Hilfreich für die spätere Lektüre ist die Einführung, die Felsenstein in seine Zeit stellt. Hier taucht schon die Frage auf „Wie realistisch ist das `realistische Musiktheater´“? Mancher Leser wird überrascht erfahren, dass einer der Definitionsversuche des „Realistischen Musiktheaters“ ausgerechnet auf Walter Ulbricht zurückgeht. Die neue Theaterideologie sollte Teil einer Kulturkampagne werden, um 1951 „auf allen Gebieten des Kulturlebens eine ideologische Offensive zu entfesseln“. Dass dieser Versuch, kulturelle Grundorientierungen aus dem „Sozialistischen Realismus“ zu entwickeln, nicht sehr erfolgreich war, ist bekannt. Selbst die Anlehnung an Simmel und dessen Interpretation von Realismus schafft mehr Verwirrung als Klarheit. „Allerdings könnte man meinen, dass Felsenstein mit Irrealismus bezeichnete, was Simmel Realismus nannte …“

Die Arbeit von Kehrmann, aus wissenschaftlichen Gründen entstanden, beleuchtet eine vielschichtige, künstlerisch-wissenschaftliche Figur zwischen 1901 und 1951. In vier umfangreichen Kapiteln und einem Epilog stellt Kehrmann die künstlerische und politische Biographie Felsensteins detailliert und äußerst differenziert dar und zeichnet so ein nuancenreiches Bild dieses Künstlers und Kulturpolitikers. Für alle diejenigen, die sich mit Person und Werk Felsensteins befassen, wird das Buch zu einer wahren Fundgrube. Doch auch diejenigen, die sich mehr für die generelle Frage des Verhältnisses von politischen Diktaturen und den Künsten befassen, erfahren zahlreiche überraschende Einzelheiten, wie unterschiedlich dieses Verhältnis konkretisiert werden kann. Ein sorgfältig erstelltes Verweissystem hilft bei der Auffindung besonderer Quellen. Ein gelungenes Buch, das fachlich zahlreiche neue Erkenntnisse bringt und kulturpolitisch ein Gewinn ist.

Horst Dichanz, 23.8.2015