O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Katja Illner

Ruhrtriennale 2021

Monströse Bilder

A DIVINE COMEDY
(Florentina Holzinger)

Besuch am
23. August 2021
(Uraufführung am 19. August 2021)

 

Ruhrtriennale, Kraftzentrale, Duisburg

Dante Alighieris Göttliche Komödie aus dem 14. Jahrhundert zählt bis heute zu den Meisterwerken der Weltliteratur. Grund genug, sich auch auf der Bühne immer wieder mit der Reise in der jenseitigen Welt durch Hölle, Fegefeuer und Paradies zu beschäftigen. Die Ruhrtriennale hat die Choreografin Florentina Holzinger mit einer Umsetzung beauftragt. „Geld spielt keine Rolle“ könnte im Briefing gestanden haben, wenn man sich das zweistündige Ergebnis anschaut. Holzinger, gebürtige Wienerin, wird in Österreich umjubelt. In Düsseldorf stellte sie sich kürzlich beim Asphalt-Festival mit ihrer viel beachteten Arbeit Tanz vor. Jetzt geht es also in die Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord, einem rustikalen Gebäude, das seit 1997 als „multifunktionaler Veranstaltungsort“ dient und genügend Bühnenfläche bietet, um Holzingers Ideen zur Göttlichen Komödie umzusetzen.

Foto © Katja Illner

Dabei versucht die Choreografin gar nicht erst, einen Bezug zur Gegenwart herzustellen, sondern schickt ihre Protagonistin und damit das Publikum auf eine „Hypnose-Reise“. Das erlaubt ihr gewaltige Bilder, die mitunter so deutlich werden, dass schon vor dem Eingang ein Schild nicht nur vor dem Stroboskop-Licht warnt, sondern ein anderes auch davor, unter 18-Jährige in die Aufführung zu schicken, weil dort neben nackten Menschen auch sexuelle Handlungen zu sehen sein werden. Und schnell wird sich herausstellen, dass es sich hier um eine echte Warnung handelt. Aus weiter Ferne fast unter dem Dach bietet sich dem Betrachter ein imposantes Bild. Auf einer riesigen Fläche sind in vorderster Front sechs Stühle aufgestellt. Dahinter sind links und rechts zwei Treppenaufgänge erkennbar, zwischen denen zwei Projektionsflächen aufgestellt sind. An der linken Seite ist die Tontechnik untergebracht, auf der rechten Seite eine Art Regie-Tisch, dessen tiefere Bedeutung sich allerdings auch im weiteren Verlauf nicht erschließen wird. Wer hier an eine Arena denkt, liegt vielleicht gar nicht so falsch, denn Holzingers Anliegen ist, die verschiedenen Bewegungsformen von Tanz bis Akrobatik, von Theater bis Chorgesang in ein Gesamtkunstwerk einzubringen. Noch vor Beginn der eigentlichen Aufführung positionieren sich Streicher und eine Organistin in der Halle. In einer Art Vorspiel erläutert eine Moderatorin die Wirkungsweise von Hypnose, ehe sie an sechs Probanden zeigt, wie sich das in der Praxis darbietet. Ein recht erschöpfender Einstieg, zumal der nur deshalb angelegt ist, um eine der Probanden unter Hypnose in Dante zu verwandeln und ihn auf die Reise in eine Fantasie-Welt zu schicken.

Foto © Katja Illner

Während die übrigen Probanden mit ihren Stühlen von der Bühne verschwinden, wechselt Dante das Kostüm und zeigt sich nackt mit rotem Hut und rotem, kleinem Cape. Damit nehmen die Abstrusitäten ihren Lauf. Der Stuhldrang des Dichters sorgt für das Auftauchen alleinfahrender Dixie-Klos, deren letztes sich als Zugang zur Hölle herausstellt. Dort verschwindet der Dichter. Die folgenden Szenen scheinen den muschifeuchten Träumen einer Pennälerin entsprungen zu sein. Und längst nicht wird klar, in welchem der drei Zustände – Hölle, Fegefeuer oder Paradies – man sich gerade befindet. Es gibt viel nackte Haut zu sehen, oftmals behangen mit dem Tod in Form eines Skeletts. 22 Darstellerinnen absolvieren die unterschiedlichsten Lebenssituationen. Ob es ein Hürdenlauf über vier Hürden ist, der sich permanent wiederholt und von zusätzlichen Aktionen zunehmend überlagert wird, wie etwa der Motorradfahrer, der wieder und wieder die Szene durchkreuzt oder zwei Darstellerinnen, die sich rücklings von den obersten Stufen der Treppenaufgänge fallen lassen. „Tabubrüche“ wie die Selbstbefriedigung einer Frau mit Dildo und anschließendem Erguss oder die fünf Frauen, die von hinten gezeigt werden, wie sie hockend auf Farbpaletten scheißen, sind eigentlich nichts wirklich Neues mehr. Ob damit wirklich neue ästhetische Formen gefunden werden, kann man diskutieren. Auch dass Beatrice Cordua erneut ihre Geschichte erzählt, ist mehr Wiederholung als unter die Haut gehend. Ihr Tod nach dem lesbischen Sexualakt und der letzten Ölung erfährt gar letztlich eine komödiantische Lösung.

Wenn das Stück dennoch eine kleine Sensation darstellt und sich tief ins Hirn einbrennt, dann liegt das daran, das Holzinger auf der Bühne von Nikola Knežević immer wieder eine Bildwucht entfaltet, die kaum noch überbietbar scheint.  Ihr Licht setzen Anne Meeussen und Max Kraußmüller dabei so plakativ ein, wie man es beispielsweise von Holiday on Ice oder ähnlichen Shows kennt. Maja Osojnik und Stefan Schneider sorgen mit ihren Kompositionen und dem Sounddesign für ein perfektes Zusammenspiel zwischen rauchgeschwängerten Höhepunkten auf der Bühne und Musik. Die Choreografie von Ty Boomershine fügt sich hier großartig ein. Nach zwei Stunden bauen sich die schweißüberströmten Darstellerinnen mit glücklichen Gesichtern vor dem Publikum auf, das selbst ganz erschlagen wirkt, aber noch in der Lage ist, sich herzlich für diese eindrucksvolle Aufführung zu bedanken. Auf dem Rückweg zum Auto erklärt eine Besucherin ihrem Begleiter lautstark, dass sie in der gezeigten Selbstbefriedigung eine Verunglimpfung der Frau sieht. Ob das wirklich so ist oder die Frau gerade ihre überholte Sexualmoral auslebt, sei dahingestellt. Aber möglicherweise sind am heutigen Abend doch mehr Tabubrüche gelungen, als man denkt.

Michael S. Zerban