O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ralf Puder

Asphalt-Festival 2021

Blutige Tanzstunde

TANZ
(Florentina Holzinger)

Besuch am
1. Juli 2021
(Premiere am 30. Juni 2021)

 

Asphalt-Festival, Düsseldorf, Central

Künstlerischen Nackttanz gibt es vermutlich so lange, wie Frauen auf der Bühne tanzen. Und mindestens so lange ist er heftig umstritten. Dabei sind längst alle Argumente ausgetauscht, und so gilt heute als eine Art Leitlinie: Wenn die Choreografie es auch nur annähernd plausibel macht, dürfen Frauen nackt tanzen – solange es nur ästhetisch wirkt. Wobei Ästhetik ein dehnbarer Begriff ist und meist im Auge des Betrachters liegt. Und besser ist natürlich schon, wenn die Choreografie von einer Frau stammt. Mit derartiger Prüderie schien lange der kleinste gemeinsame Nenner gefunden. Da können die lustvolle Pose wie der lüsterne Blick unter dem Mäntelchen der Kunst versteckt werden. Nur manchmal weht auch ein Windzug unter das Mäntelchen, und dann sieht man, dass Vorstellungen mit Nacktauftritten meist ausverkauft sind, was andere Tanzproduktionen beileibe nicht immer von sich behaupten können.

Foto © Eva Würdinger

Auch das Asphalt-Festival hat in diesem Jahr eine Produktion mit nackten Frauen auf der Bühne im Programm. Versteht sich von selbst, dass hier nicht verklemmtes Voyeurskino auf dem Zettel steht, sondern eine ungewöhnliche Produktion, die noch viel von sich reden machen wird. Eingeladen ist die Wienerin Florentina Holzinger, die schon mit früheren Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht hat und vor allem bislang in Österreich als Stern am Choreografen-Himmel gilt. In ihrer bis jetzt größten Produktion unter dem simplen Titel Tanz widmet sie sich dem Ballett.

La sylphide – zu Deutsch Feenwesen – stammt aus dem Jahr 1832, wurde von Jean-Madeleine Schneitzhoeffer komponiert und prägt in der Choreografie von Filippo Taglioni bis heute das Image des klassischen Balletts mit Tutu und Spitzentanz. Vermutlich Millionen von Mädchen – und später auch Jungen – haben sich daran abgearbeitet, an Ballettstangen vor Spiegelwänden die Schwerkraft des menschlichen Körpers aufzuheben und den zauberhaften Feenwesen gleichzukommen. In unzähligen feuchten Träumen pubertierender Jungs haben die grazilen Körper heranwachsender Mädchen ihre hautengen Trikots verloren.

Holzinger entzaubert diese Träume, die seit den Porno-Plattformen im Internet wahrscheinlich ohnehin keine Rolle mehr spielen. Dazu hat sie sich Hilfe geholt. 1972 tanzte die langjährige Primaballerina John Neumeiers, Beatrice Cordua, Le Sacre du Printemps nackt. Jetzt steht sie wieder nackt auf der Bühne – 80-jährig. Sie leitet die Tanzstunde, die Holzinger in zwei Akten auf die Bühne bringt. Vor ihr vier Eleven an zwei Ballettstangen in Trainingskleidung. Aber wie soll man sich seines Körpers bewusst werden, wenn man ihn in Kleidung steckt? Drei Aufforderungen der Pädagogin bedarf es, bis die Tänzerinnen endlich ihre Klamotten abgelegt haben. Endlich kann sie sich am festen Fleisch der durchtrainierten, selbstbewussten Tänzerinnen ergötzen, die aus sich selbst heraus strahlen. Geradezu hineinbeißen möchte die alte Dame in die festen Oberschenkel von Frauen, die stolz auf ihre Körper sind. Und während Cordua noch an den technischen Feinheiten arbeitet, erklärt sie, dass eine Technik nur dann gut ist, wenn sie den Körper befreit. Der Abschluss der körperlichen Übungen liegt in der Masturbation. Solchermaßen kraftvoll geht Holzinger vor, die selbst mittanzt und sich ungern in eine feministische Ecke drängen lässt. In einem Zeitalter, in dem männliche und weibliche Künstler sich längst nichts mehr nehmen, ist es obsolet, über Gleichberechtigung nachzudenken.

Foto © Ralf Puder

Tatsächlich gelingt es der Choreografin, den Tänzerinnen jede Erotik abzugewöhnen. Spätestens im zweiten Akt, wenn die Frauen im Wortsinn auf an der Decke aufgehängten Motorrädern abhängen, ist egal, in welche Spalte man schaut. Die künstlerische Leistung steht im Vordergrund, wenn die Tänzerinnen zunehmend in den Bereich der Fantasiewelt kommen, wo ein Wolf und artistische Akte mehr und mehr im Vordergrund stehen. Wie entfesselt dürfen die Damen sich prügeln, an den Haaren in den Himmel ziehen lassen und Theaterblut gleich flaschenweise versprühen. Ein Panoptikum der Fantasie entsteht, das vor Ideen schier auseinanderfliegt. Dass der Ausflug in den Märchenwald mit den zahlreichen Anspielungen auf die herkömmliche Welt des Balletts schließlich wieder im Studio endet, wo die Frauen mit gesteigertem Selbstbewusstsein noch einmal ihre Übungen absolvieren – wenn auch leidlich erschöpft, denn der zweistündige Abend verlangt ihnen alles ab – gibt der Grande Dame der Ballettwelt Recht.

Es ist ein Abend, wie man ihn selten erlebt. Eine Anhäufung von Kuriositäten, entblößt, aber originell. Zu den Kuriositäten – oder Albernheiten? – gehört, dass die Wienerin sich zwischen erstem und zweitem Akt mit den Rheinländern auf Englisch unterhält. Damit werden geschätzt 85 Prozent des Publikums aus der Kommunikation ausgeschlossen. Aber so ein bisschen elitär darf es ja auch sein in der Kunst, oder? Nach zwei überragenden Aufführungen zum Auftakt darf man gespannt sein, ob das Festival ein solch hohes Niveau halten wird.

Michael S. Zerban