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Hintergründe
Franz Xaver Ohnesorg ruft die letzte Spielzeit des Klavier-Festivals Ruhr unter seiner Ägide aus. Und er hat sich für sein letztes Programm im Ruhrgebiet etwas Besonderes einfallen lassen. Ein besonderer Schwerpunkt wird in diesem Jahr bei Györgi Ligeti liegen, der heuer 100 Jahre alt geworden wäre.
Im Vordergrund: Franz Xaver Ohnesorg – Foto © Dana Schmidt
Ende des Jahres geht im Ruhrgebiet und Umgebung eine Ära zu Ende. Denn ab Januar kommenden Jahres zieht sich Franz Xaver Ohnesorg aus dem Berufsleben zurück und legt nach 28 Jahren das Klavier-Festival Ruhr in die Hände von Katrin Zagrosek. Nach Stationen als Orchesterdirektor der Münchner Philharmoniker, Direktor und später Intendant der Kölner Philharmonie, Executive and Artistic Director der Carnegie Hall in New York City und Intendant der Berliner Philharmoniker landete er schließlich im Ruhrpott. Zunächst ab 1996 als künstlerischer Leiter und später als Intendant des Klavier-Festivals Ruhr war er für seine Geschicke verantwortlich, das sich unter seiner Ägide weltweit zu dem größten Festival seiner Art entwickelte und etablierte. Hier geben sich die so genannten Top 10 der internationalen Pianisten-Szene die Klinke in die Hand, die mit überwiegend gehaltvoller Klavierliteratur bekannter Komponisten für sehr gut besuchte bis ausverkaufte Konzertsäle sorgen. Daran ändert sich auch in Ohnesorgs letzter Festspielzeit vom 24. April bis 7. Juli nichts. Eine Neuerung gibt es dennoch. Standen die Festivals unter einem bestimmten Motto wie Jubiläen von Komponisten oder die „Lebenslinien“ im vergangenen Jahr, werden nun drei Akzente gesetzt. Betont werden die Jahre 2023, 1923 und 1823. Ein großer Schwerpunkt liegt dabei auf der modernen, zeitgenössischen Musik.
Dieses Jahr, also 2023, nimmt Ohnesorg zum Anlass, einen Schwerpunkt auf die Musik György Ligetis zu setzen, der am 28. Mai 100 Jahre alt geworden wäre. Mit unzähligen Ehrungen und Preisen hochdekoriert starb der ungarische Komponist am 12. Juni 2006 in Wien. Aufgewachsen in einer Kleinstadt in Siebenbürgen, nach dem Musikstudium in den Fächern Orgel und Violoncello sowie Kompositionsstudium bei Ferenc Farkas, Sándor Veress und Pál Járdányi wurde er 1960 Lehrer für Kontrapunkt, Harmonie- und Formenlehre an der Budapester Musikhochschule. Aufgrund zunehmender Repressalien floh er sechs Jahre später zunächst nach Wien und kam durch Briefkontakte mit Karlheinz Stockhausen und Herbert Eimert ans Studio für elektronische Musik des WDR nach Köln. Er schloss sich dem Darmstädter Avantgarde-Kreis an, wurde Dozent der Darmstädter Ferienkurse, verfasste Schriften über die Probleme des Serialismus und fertigte Rundfunkbeiträge etwa über Anton Webern an. Aufsehenerregende Kompositionen entstanden ab 1958, beginnend mit Apparations, machten ihn zum vielbeachteten Komponisten. Ab 1973 bis zu seiner Emeritierung anno 1989 war er Professor für Komposition an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg.
An sechs Terminen wird eine Auswahl aus seinem umfangreichen Oeuvre präsentiert. Los geht es quasi als Vorspiel zum Festival bereits am 12. März im Anneliese-Brost-Musikforum Ruhr. Dann präsentiert der junge amerikanische Pianist Kit Armstrong neben anderen modernen Werken eine Auswahl seiner Études und den elf Klavierstücken Musica ricercata. Letzteres Werk ist auch Bestandteil eines Gesprächskonzerts am 1. Juni in der Folkwang-Universität in Essen-Werden. Kein geringerer als der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard wird dann ab 18 Uhr die Entwicklung des Klavierstils von Ligeti vom Frühwerk bis zu den späten Etüden aufzeigen. Tags zuvor, ein weiteres Mal im Bochumer Anneliese-Brost-Musikforum Ruhr, werden Aimards Meisterschüler Lorenzo Soulés sowie die beiden Ensembles ColLAB Cologne und Folkwang Modern unter der Leitung von Susanne Blumenthal sein Konzert für Klavier und Orchester aufführen. Spannend wird es am 13. Juni im Haus Fuhr in Essen-Werden. Denn neben Liedern anderer Komponisten stehen die Mysteries oft the Macabre und frühe Lieder im Mittelpunkt, die zum Teil ihre Uraufführung erfahren. Es ist bekannt, dass viele seiner frühen Tonschöpfungen nur im ungarischen Rundfunk gespielt wurden oder bis heute nicht gespielt werden. Nicht alle wurden später verlegt. Immer wieder graben Musikwissenschaftler und Musiker Stücke aus und erweitern das Werkverzeichnis. Mezzosopranistin Sarah Maria Sun, Pianist Jan Philip Schulze und Klarinettist Kilian Herold werden für die Neuentdeckung zuständig sein. Einen Tag später, in der Duisburger Mercatorhalle, präsentieren Schüler aus Duisburg-Marxloh mit dem Titel Ligetis Welten ein Gemeinschaftswerk aus Tanz, Musik und Bühnenbild. Als Partner konnten Sarah Maria Sun und Pianist Fabian Müller gewonnen werden. Erneut kommen einige Etüden Ligetis zur Aufführung und zwar am 15. Juni wieder im Haus Fuhr. Müller wird sie spielen. Außerdem wird Alfred Brendel auf der Bühne Platz nehmen. Er hat bekanntlich seinen Beruf als Pianist vor ein paar Jahren an den Nagel gehängt, ist aber hin und wieder als Rezitator unterwegs. Ausgewählte Texte aus der deutschen und russischen Literatur will er vortragen, die seiner Meinung nach die Klavierstücke „wunderbar ergänzen werden“.
Des Weiteren wird beim Abschlusskonzert am 7. Juli in der Historischen Stadthalle Wuppertal ein Klavierkonzert des US-amerikanischen Komponisten Philip Glass, der vor Kurzem seinen 86. Geburtstag feierte, frisch aus der Taufe gehoben. Es ist ein Auftragswerk des Klavier-Festivals Ruhr. Außerdem stehen mit Variations on America von Charles Ives und Leonard Bernstein Sinfonische Tänze aus seiner West Side Story weitere Werke aus den Vereinigten Staaten auf dem Programm. Zu Gast sind das MDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Dennis Russel Davies und die Pianistin Maki Namekawa.
Sarah Maria Sun – Foto © Thomas Jauck
Dann blickt Ohnesorg 100 Jahre zurück, 1923 ins Ligetis Geburtsjahr. Anfang dieses Jahres wurden die bis dahin unbesetzten Teile des Ruhrgebiets, das heutige Zentrum des Klavier-Festivals Ruhr, durch französische und belgische Besatzungstruppen okkupiert – der Höhepunkt des Konflikts um die Erfüllung der Reparationszahlungen des Deutschen Reichs an die Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg. In diesem Jahr voller Erschütterungen und der Geldentwertung war die Musik sehr vielschichtig. Arnold Schönberg schuf seine ersten zwölftönigen Klavierstücke. Béla Bartók komponierte seine gewichtige Tanz-Suite. Igor Strawinsky sorgte für Furore, als er sich von der Avantgarde hin zum Klassizismus wendete. In den USA war der Charleston der Modetanz. Die Schallplattenindustrie boomte. In Berlin feierte der öffentliche Rundfunk Premiere. Vier Veranstaltungen werden sich mit dieser Zeit befassen.
Am 29. April gibt es zuerst im Essener Museum Folkwang einen von Tobias Bleek – Musikwissenschaftler und Leiter des Education-Programms des Klavier-Festivals Ruhr – gehaltenen Vortrag mit Musikbeiträgen über die vielfältigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Kunstsparten. Eine themenbezogene Führung durch die Sammlung schließt sich an. Schließlich gibt die Pianistin Yaara Tal ein Rezital mit Werken bekannter und weniger geläufiger Komponisten wie Frederick Delius, Hanns Eisler, Alexandre Tansman und Josef Matthias Hauer.
Im UNESCO-Welterbe Zollverein in Essen wird zunächst am 6. Mai eine Führung durch die Sonderausstellung Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung von 1923-1926 angeboten. Eine Podiumsdiskussion darüber folgt. Danach heißt es When I see twenty-three. Kein Geringerer als der renommierte Jazzpianist Pianist Frank Chastenier hat mit diesem Titel ein Programm mit ganz unterschiedlichen Stücken aus dem Jahr 1923 zusammengestellt. Mit dabei sind Bassist Christian von Kaphengst und Schlagzeuger Hans Dekker.
Auch die Bochumer Symphoniker unter Tung-Chieh Chuang und die Pianistin Tamara Stefanovich beteiligen sich am 4. Juni daran. Im Bochumer Anneliese-Brost-Musikforum Ruhr präsentieren sie Paul Hindemiths Klaviermusik mit Orchester, Bartóks besagte Tanz-Suite, Strawinskys Konzert für Klavier und Blasorchester sowie Kurt Weills Quodlibet.
Tags darauf gibt sich in der Essener Lichtburg Humorist und Musiker Helge Schneider die Ehre, um am Klavier Charlie Chaplins legendären Stummfilm The Kid mit Improvisationen musikalisch zu untermalen.
Ein weiterer Schwerpunkt ist für Ohnesorg zum Schluss seiner Intendanz eine Herzensangelegenheit. Er geht in der Geschichte weitere 100 Jahre zurück und landet folglich im Jahr 1823 bei Franz Schubert. Anhand vieler seiner Werke unterschiedlichster Couleur für Klavier solo und zu vier Händen, Orchestermusik, Liedern und Liedbearbeitungen werden ihm unter anderem 17 Pianisten im Rahmen vieler Konzerte, die sich wie ein roter Faden durchs Festival ziehen, ihren Respekt zollen.
Natürlich werden die altbekannten, etablierten Formate nicht vernachlässigt. Wieder geben sich zahlreiche Pianisten mit in der Regel Werken geläufiger Komponisten die Klinke in die Hand. 19 talentierte junge Pianisten werden debütieren. Auch die Jazz-Line ist vertreten. Ohnesorg freut sich, das Festival wieder im üblichen Zeitraum und mit der gewohnten großen Anzahl an Konzerten wie vor der Corona-Pandemie anbieten zu können: 68 Veranstaltungen an 22 Orten auf 33 Podien, 118 Solisten, 79 Pianisten, 14 Orchester und Ensembles.
Hartmut Sassenhausen