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Aktuelle Aufführungen

Pretiosen am Rhein

FANTASIEVOLLE FREIHEIT
(Diverse Komponisten)

Besuch am
22. Januar 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Monheimer Kulturwerke, Aula am Berliner Ring

Da möchte man schon in Zweifel geraten, ob die Bürger der Stadt eigentlich begreifen, welche Musikschätze die Monheimer Kulturwerke in der Aula am Berliner Ring zur Aufführung bringen. Zumindest bleiben heute Abend unverhältnismäßig viele Plätze frei. Und das liegt vermutlich nicht daran, dass die Temperatur im Saal auf 19 °C abgesenkt ist. Mit warmer Jacke und Schal lassen sich die anderthalb Stunden gut aushalten, wenn man dafür das Klavierspiel eines Pianisten wie Pierre-Laurent Aimard genießen kann.

Der begann bereits als zwölfjähriger sein Studium am Konservatorium seiner Geburtsstadt Lyon. Später studierte er in Paris und London. Im Laufe seiner internationalen Karriere wurde Aimard vor allem als Pianist zeitgenössischer Musik berühmt. So arbeitete er, um nur wenige Beispiele zu nennen, mit Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez oder György Kurtág. Das hindert ihn nicht, sich auch immer wieder mit klassischem Repertoire auseinanderzusetzen. Neben seinen Bühnenauftritten lehrt er als Professor an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln sowie am Pariser Konservatorium.

Nach Monheim am Rhein hat Aimard ein ganz besonders feines Programm mitgebracht. Fantasievolle Freiheit, so nennt der Pianist es, führt – je nach Definition – durch fast 500 Jahre Musikgeschichte. Fantasie ist hier nicht etwa als romantischer Begriff zu verstehen, sondern als eine neue Freiheit der Komposition. Darf man Jan Pieterszoon Sweelincks Fantasia cromatica getrost noch als Vorläufer bezeichnen, gleichwohl von Virtuosität geprägt, zeigt sich Wolfgang Amadeus Mozart als Meister der Fantasie. Nicht länger stehen die Regeln der Komposition im Vordergrund, sondern der fantastische Einfall bricht sich Bahn. Und deshalb ist es auch nicht wichtig, ein Stück zu vollenden. Es geht um die Idee, und wer gerade darin eine – nachträglich – notierte Improvisation erkennt, liegt damit sicher nicht falsch. Mit der Musica stricta von André Volkonsky beendet Aimard den ersten Teil des Abends, einer Fantasie, die der Zwölftonmusik entsprungen ist. Welch ein Paradox. Dem Pianisten ist es bis dahin gelungen, dem Publikum die Faszination der Fantasie zu vermitteln. Er spielt die Stücke mit Innerlichkeit und solcher Empathie, dass niemand auf die Idee kommt, ihn mit schnödem Applaus zu unterbrechen. Das erlebt man auch nicht alle Tage.

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Auch im zweiten Teil löst sich der Blick des Pianisten kaum von den Notenblättern, die von der Seitenwenderin zuverlässig umgelegt werden. Zumal er hier komplexere Werke ausgewählt hat. Da kommt denn auch Carl Philipp Emanuel Bach zu Wort, der vor allem die größere Emotionalität der Fantasie beschwor. Zwei weitere Mozart-Fantasien finden hier Platz, neben der die einzige Fantasie Ludwig van Beethovens aufleuchtet. Entstanden sei sie möglicherweise, so ist zu lesen, als Solo-Part eines Benefiz-Konzerts im Jahre 1808. Also auch hier wieder die Improvisation, die nachträglich notiert wurde. Die Besonderheit sieht Beethovens Schüler Carl Czerny rückblickend darin, dass sie „ein getreues Bild“ ablieferte „von der Art, wie er zu improvisieren pflegte, wenn er kein bestimmtes Thema durchführen wollte und sich daher seinem Genie in Erfindung immer neuer Motive überließ“.

Mit einem Sprung, ohne dass ein großer Bruch entstünde, geht es ins 20. Jahrhundert, um George Benjamins Fantasy on Iambic Rhythm zu präsentieren. Der Schüler Olivier Messiaens verlässt sich bei aller Improvisationsfreude auf die jambische Zeile, auf die er sich immer wieder zurückzieht. Schwungvoll beendet Aimard den zweiten Teil, in dem immerhin vereinzelt zögerlicher, aber letztlich auch überflüssiger Applaus aufscheint, weil der Künstler deutlichere Pausen zwischen den Stücken setzt. Dass sich an diesem Abend ein Hauch von Magie im Saal ausbreitet, darf man ohne Übertreibung behaupten, auch wenn Aimard alles daran setzt, sein Programm zügig abzuarbeiten. Und so wartet er auch gar nicht das Verlangen einer Zugabe ab, sondern setzt sich nach bravem Beifall sogleich wieder an den Flügel, um zu zeigen, dass, wie er sagt, die Fantasie kein Ende finde. Gleich zwei Miniaturen bringt er noch zu Gehör, beide von Freund György Kurtág. Aus dem Jahr 2011 stammt die Fantasie Pàrbeszéd, zu Deutsch Dialog, zehn Jahre später schrieb der ungarisch-französische Komponist das Stück Le chien, der Hund, das er Aimard widmete.

Da hat der Maître ein Juwel, ach was, ein ganzes Collier feingeschliffener Diamanten an den Rhein gebracht. Und während das Publikum sich beeilt, noch pünktlich zum Tatort nach Hause zu kommen, bleibt die Hoffnung, dass dieses wunderbare Programm demnächst als Album erscheinen wird.

Michael S. Zerban