Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Horst Dichanz- Foto © privat

Kommentar

Kaum ausgereift

Bei dem Versuch, ein Grundsatzpapier zum modernen Verständnis der Musikvermittlung zu entwickeln, ist die „Detmolder Erklärung“ herausgekommen. Sie zeigt: Schon jetzt badet ein vergleichsweise junges Berufsfeld im eigenen Saft. Da werden wohl noch einige Erklärungen folgen müssen.
Musikvermittler bei der Arbeit an einer Erklärung - Foto © Katharina Höhne

Unser Pauker auf der Penne, wir nannten ihn „Karlchen“, war Musiker mit Leib und Seele, Künstler eben – er kannte keine Kompromisse: Ob eine Beethoven-Sonate, ein Lied aus Schuberts Winterreise oder, uns schon ein wenig näher, Kurt Weills Mackie-Messer-Song, wir mussten durch: Hauptthema, Nebenthemen, Variationen, Reprise, Zitate … Musikanalyse, Musiktheorie, für uns 16- bis 18-Jährige schlicht eine Tortur. Wir fanden es sooo langweilig, obwohl Künstler Karlchen als Original stadtbekannt war. Da empfanden wir unseren Dozenten in der Lehrerausbildung in Kettwig als Erholung, ja geradezu als begeisternden Musikus, der uns ansteckte. Donnerstagmorgens von 8 bis 9.30 Uhr, eine unmögliche Zeit für gemeinsames Musizieren, war der größte Hörsaal voll – zum offenen Singen für alle. Unser Dozent spielte, sang, dirigierte, hüpfte und begleitete uns auf dem Klavier. Er nahm uns mit auf eine fröhliche musikalische Reise durch Volkslieder, internationales Liedgut, Choräle oder Opernchöre. Und wir gingen mit, begeistert und beschwingt, ein Morgen voller Musik. Und dann schließlich unser Dom-Chordirektor in einer westfälisch-katholischen Kleinstadt: Er war streng, verlangte von seinen Sängern, fast alles Laien, professionelles Üben und Singen, ließ keine Kompromisse zu, aber hatte ein geschicktes Händchen, uns erwachsengemäß anzusprechen und zu motivieren. Das Singen auch schwieriger Chorsätze machte Spaß, ein Benjamin-Britten-Konzert erhielt überwältigenden Beifall, das Ergebnis überzeugte auch uns, machte uns ein wenig stolz. Drei Chorleiter, drei verschiedene Aufgaben, drei höchst unterschiedliche Formen der Musikvermittlung.

Die Zeiten, in denen ein Lehrer Klavierspielen können musste und sonntags auf der Orgel saß, sind wohl endgültig vorbei. Inzwischen hat sich Musikvermittlung zu einer echten Profession gemausert, auf die man sich in einem Master-Studiengang vorbereiten kann, zum Beispiel an der Hochschule für Musik in Detmold. Im „künstlerischen Masterstudiengang Musikvermittlung/Musikmanagement“ können Personen, „die in der Musikszene tätig und an einem neuen, intensiven und kreativen Dialog mit dem Publikum interessiert sind“, erfahren und lernen, „wie zeitgemäße Vermittlung von Musik gelingen kann und wo ihre Möglichkeiten liegen“. Der Studiengang ist der einzige seiner Art in Deutschland und bei Einschreibungen von etwa 20 Studenten pro Jahr und knapp 100 Absolventen gut nachgefragt und ausbaufähig. Eine Gruppe von inzwischen praxiserfahrenen Ehemaligen kümmert sich engagiert und gut unterstützt vom Netzwerk Junge Ohren um die weitere Professionalisierung.

Die Aufgabe der Vermittlung von Musik besonders an Kinder und Jugendliche ist für das Netzwerk Junge Ohren eine seiner wichtigsten Aufgaben. Seit 2006 unterstützt und fördert es „Akteure aus Musik, Bildung, Kulturpolitik und -wirtschaft im deutschsprachigen Raum“ bei der Erfindung und Entwicklung kreativer Zugänge zur Musik, es fördert und verbreitet neue Vermittlungsformen an Kinder und Jugendliche. Auf seinen Arbeitstagungen und bei Weiterbildungen stellt es „neue und erprobte Modelle der Musikvermittlung“ vor und engagiert sich bei der „Etablierung und Professionalisierung eines jungen Berufsfeldes“. Als wesentliches Instrument hierzu veranstaltet das Netzwerk seit 2008 jährlich den Junge-Ohren-Preis (JOP), dort erklingen besonders originelle und mutige Musikaufführungen, dort werden gelungene, beispielhafte Formen der Vermittlung prämiert. Besucher der JOP-Preisveranstaltung, die jährlich ihren Standort wechselt, können sich mehrfach von der Vielfalt, Kreativität und Professionalität der prämierten Projekte überzeugen, die Arbeit des Netzwerks trägt Früchte.

So konnten Besucher im vergangenen Jahr in Osnabrück erleben, wie sich vier junge Cellistinnen in einer akrobatischen Aufführung Ein Cello zu Viert teilen, in Göttingen überraschten Verena Ries und das Quartett Plus 1 mit der Besten Beerdigung der Welt. In Stuttgartverbinden junge Instrumentalisten beiderlei Geschlechts der Lucerne Festival Academy musikalische Miniaturen und clowneske Szenen zu einer mitreißenden Musikrevue, bei der kaum ein Auge trocken bleibt. Die Produktion Eersteklasconcerten aus Brügge wendet sich an Grundschüler zwischen sechs und sieben Jahren und führt sie in drei Konzerten und Workshops auf einen musikalischen Rundgang. Dabei erhalten sie „eine konzentrierte und darstellerisch starke Einführung in die experimentelle Musik, an der sie aktiv selbst beteiligt sind“.

Solche neuen, kreativen Formen der Musikpräsentation sind bestens dazu angetan, die Musikvermittlung zu entstauben und dem Musikunterricht seine Musikalität zurück zu geben. Die Initiatoren gehen dabei von der „Vorstellung einer musikalischen Grundversorgung für alle als Voraussetzung kultureller Bildung“ aus, sie beobachten aktuelle Entwicklungen der Kulturszene und bieten einer verzweigten Fach-Gemeinschaft ein Forum der Information, Kommunikation und Präsentation.

Da war es nach elf Jahren wohl an der Zeit, Erfahrungen und Ergebnisse der bisherigen Arbeit kategorisch zusammenzufassen, wesentliche Qualitätsmerkmale guter, nachhaltiger Musikvermittlung zu beschreiben und auf den Punkt zu bringen. Heraus gekommen ist die „Detmolder Erklärung“, die Musikvermittler, frisch ausgebildete und langjährig erfahrene, auf einer Arbeitstagung in unmittelbarer Nachbarschaft der Hochschule für Musik in Detmold erarbeitet und nun publiziert haben.

Die Erklärung trägt an vielen Stellen den Charakter eines Grundsatzpapiers, das sehr grundsätzlich und bisweilen bedeutungsschwer daherkommt. „Das junge Berufsfeld Musikvermittlung hat sich aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen stark weiterentwickelt. Mit der Akzeptanz musikvermittlerischer Angebote steigt der Bedarf an professionell ausgebildeten Musikvermittler/innen. Dem stehen kleine Zeitfenster und output- statt prozessorientierte Drittmittel-Budgets gegenüber“, heißt es da beispielsweise, hier gekürzt wiedergegeben. Kein Zweifel, „Kontinuität ist in der Musikvermittlung ein wesentliches Qualitätskriterium“. Natürlich geht es um „Empathie durch Musik“ und den „kulturellen Bildungsauftrag“ – der theoretische „Überbau“ sozusagen. Man kann eigentlich immer nur zustimmend mit dem Kopf nicken – „Ja, genau!“

Dann wird es doch noch etwas konkreter, handfester. Die Autoren stellen fest, dass Musikvermittlung und ihre Aktivitäten sich politisch in den Ressorts Kultur, Jugend und Bildung treffen – wenn sie denn wahrgenommen werden. Dort trifft man sie an, vor allem, wenn es um Haushaltsfragen geht. Die Autoren erkennen die Notwendigkeit, sich „auf allen föderalen Ebenen kultur- und bildungspolitisch zu vernetzen“, genau. An diesem Punkt klafft in dem Dokument eine Lücke, hier wären mehr Informationen, Beispiele und Anregungen nützlich. Denn die alltäglichen Arbeitsbedingungen der Musikvermittler werden – oft in kleiner Münze – vielfach in der Lokal- und Regionalpolitik gezimmert, in den Ausschüssen für Schule, Kultur und Sport beispielsweise, bevor sie in den Rat gelangen und dort, hoffentlich, verabschiedet werden. Auch Hinweise auf erfolgreiche Netzwerke und spezifische Förderprogramme, wie sie regional und landesweit existieren, gehören zu den Informationen, die die Alltagsarbeit konkret fördern helfen.

Zwar mag der Hinweis auf den Abschlussbericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland aus dem Jahr 2007 wichtig und manchmal auch hilfreich sein, aber der Traum von einem „kohärenten, das heißt aufeinander aufbauenden und … durchlässigen Gesamtsystem“ in der Musikvermittlung dürfte angesichts der Kulturhoheit der Länder und der sehr breit gestreuten Interessen und Geschäftsgrundlagen der Träger von Musikvermittlung weit ab von jeglicher Realität sein. Die Schwierigkeiten der Abstimmung von Spielplänen vor Ort und die zahlreichen unterschiedlichen Berufsverbände musizierender Künstler sind nur zwei Hinweise auf einen Arbeitsalltag, in dem die Basis für ein solches Manifest erst aufgebaut werden muss. Hier wären Hinweise und Beispiele aus der kulturpolitischen Praxis vor Ort oder die Darstellung verschiedenster Organisations- und Trägerformen und -modelle von Musikvermittlung nützlich, die den Blick über den örtlichen Kirchturm hinaus lenken. Ob es der Alumni-Gruppe der HfM Detmold gelingt, mit dieser gut gemeinten „Detmolder Erklärung“ in der kulturpolitischen Diskussion wahr genommen zu werden, ist eine offene Frage.

Wenn sich Musikvermittler als „GrenzgängerInnen und KommunikatorInnen“ verstehen und die Brücken zum Publikum schlagen sollen, ist mindestens ebenso notwendig eine Brücke zur örtlichen und regionalen Kulturpolitik. Auf die Frage nach der Teilnahme von Lokalpolitikern an den örtlichen Theater- und Konzertaufführungen zucken viele Intendanten nur mit den Schultern, nur einer der Befragten nennt sofort eine konkrete Zahl. Das ist ein Indiz dafür, wie wenig diese Seite der kulturpolitischen Netzwerke wahrgenommen wird. Es scheint notwendig, dem Grundsatzprogramm Musikvermittlung ergänzend zu den „fachlichen Herausforderungen“ möglichst bald kulturpolitische Essentials des musikvermittelnden Alltags hinzuzufügen, wenn die „Detmolder Erklärung“ über ihren deklamatorischen Charakter hinaus wirken soll. Dass sie ohnehin eine lange Reise beschreibt, wissen schon jetzt alle Beteiligten.

Horst Dichanz

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