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Foto © Lioba Schöneck

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LINCHPIN/GLASMENAGERIE
(Can Arslan/Ivan Alboresi)

Besuch am
9. April 2016
(Premiere)

 

 

Mainfranken-Theater Würzburg

Ein zweigeteilter Ballettabend mit stilistisch verschiedenen Choreografien befasst sich im Mainfranken-Theater Würzburg mit der Frage, was das System der Gesellschaft zusammenhält oder ob es überhaupt solch einen Zusammenhalt gibt. Can Arslan und Ivan Alboresi beantworten diese Frage mit Pessimismus. Denn in Linchpin von Arslan, was in etwa Achsnagel, Stütze oder Dreh- und Angelpunkt bedeutet, und in Die Glasmenagerie von Alboresi – nach Tennessee Williams – wo es um das Auseinanderbrechen des Kleinsystems einer Familie geht, enden die Bemühungen der Menschen, die im ersten Fall als anonyme Vertreter einer Masse gesehen werden, im zweiten Fall eher als individuelle, aber typische Charaktere, in der Isolation oder im Scheitern.

Dass das abstrakte Ballett von Arslan eher vom Ästhetischen her wirkt und manche Zuschauer trotz der eindrucksvollen Bilder etwas ratlos lässt, ist verständlich. Alles findet auf der leeren Bühne von Sandra Dehler statt, nur durch wechselndes Licht von Roger Vanoni werden Räume geschaffen. Verbindendes Element ist der Würfel. Mit ihm beschäftigen sich zuerst die Menschen einzeln, drehen ihn, lassen ihn leuchten. Er soll auf die materialistische Welt verweisen. Dieser Würfel wird im Verlauf der Tanzsequenzen zur gut gewählten Musik von Béla Bartok immer größer, weitet sich über die ganze Bühne durch Lichtbänder, wird aber schließlich zu einer gläsernen Einhausung für einen gesichtslosen Menschen, der aus der Masse heraussticht durch sein rotes Oberteil. Die anderen treten zuerst auf als geschlechtslose Wesen in Hosen und mit schwarzen, transparenten T-Shirts von Götz Lancelot Fischer; diese legen sie ab, als der beleuchtete Würfel in ihren Händen erlischt, und so erhält jeder durch sein verschieden sanft farbiges Oberteil eine gewisse Eigenständigkeit.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Ab und zu finden sich die meist gleichgeschalteten Tänzer zu Paaren zusammen; ein einzelnes Paar tanzt länger miteinander, mal verbunden durch Hebungen, Verschränkungen und Ähnliches, mal auf Distanz, dann wieder ganz nah. Arslan deutet das als Verdrängung des Unbewussten, des „Schattens“ des Menschen. Als sich der Würfel auf die ganze Bühne ausgeweitet hat, finden sich alle zusammen in der Enge eines Glaswürfels; sie verlassen ihn, bis nur noch der Mann ohne Gesicht darin bleibt. Das Gesicht als Ausdruck einer individuellen Identität wird auch in Frage gestellt, als weiße Masken als „Vorhang“ zur Verhüllung des Gesichts herabfallen. Die Tänzer aber sind ganz reduziert auf ihre Bewegungen; sie sind oft wie abgehackt, stoppen wie im Wartezustand, zeigen in Drehungen, im Rollen auf dem Boden, mal blitzschnell, mal verlangsamt, häufig als Masse synchron, oft in gymnastischer Durchformung und in Spannung bis in die Hände und Fingerspitzen überraschende Vielfältigkeit. Das suggeriert den steten Wechsel von Distanz und Nähe, oft auch unterdrückte Gewalt. Die Ballettfans im Publikum sind begeistert über die Ausdrucksstärke des homogenen Ensembles der zwölf Tänzerinnen und Tänzer.

Foto © Lioba Schöneck

Nach der Pause dann etwas Anderes, das eher „konkret“ erzählende Ballett Die Glasmenagerie, Ein Spiel der Erinnerungen. Alboresi reduziert in seiner Choreografie die Handlung auf das Innere der Personen, die von unerfüllten Wünschen, Träumen in der Vergangenheit und Zukunftsillusionen geleitet sind, aber mit der Wirklichkeit nicht zurechtkommen. Götz Lancelot Fischer lässt die handelnden Personen in Kleidung der 1950-er Jahre auftreten, Sandra Dehler deutet mit Möbeln oder Glasstücken, die von der Decke hängen und erst am Schluss auf dem Boden aufprallen, an, dass alle in einer surrealen Welt leben. Auch der glitzernd transparente Vorhang vor dem Hintergrund und die einheitlich schwarzen Trikots der Vertreter der „Gesellschaft“ zeigen, dass hier keine „echten“ Menschen gemeint sind. Erst am Schluss, als alle Träume der Familie Wingfield zerplatzt sind, tragen sie schwarze Anzüge.

So triumphiert die Realität, und die Desillusionierung drückt sich auch aus in der Aufschrift am Ende „Also dann leb wohl“; gemeint ist damit auch der Abschied von der Vision einer intakten Familie. Die Choreografie bewegt sich zwischen Ausdruckstanz und modernen Formen. Joannis Mitrakis ist ein überzeugend mit sich kämpfender Vater, der weg von der Familie will und sich deshalb quasi hineinstürzt ins Leben – zum kurzzeitigen Entsetzen einiger Zuschauer. Vor allem die ehrgeizige, umtriebige Mutter Amanda engt ihn ein; Camilla Matteucci zeichnet sie eindrucksvoll, stets angespannt, in großen, weit ausgreifenden Bewegungen. Ihre schüchterne Tochter Laura stellt mädchenhaft zart, zurückhaltend Caroline Vandenberg dar, Mihael Belilov ist ihr kraftvoll tanzender Bruder Tom. Das Tragische der Begegnung Lauras mit Jim macht Davit Bassénz spürbar; Laura geht auf ihn zu, ihre vorher gehemmten Drehungen und Regungen werden freier, ihre körperliche Ausstrahlung scheint lockerer. Doch sie hat seine Gefühle falsch eingeschätzt. So sitzen am Ende sie und ihre Mutter einsam am seltsam eingewickelten Tisch – und Tom stürzt sich wie sein Vater ins „echte“ Leben. Zurück bleibt das Bild einer künstlichen Welt, die man nicht benutzen kann.

Das Premierenpublikum feiert gerade dieses von der Aussage her berührende Ballett lange, belohnt die Tänzer und das Choreografie-Team mit lauten Jubelrufen und vielen Vorhängen. 

Renate Freyeisen