Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Some alt text
Neue Trinkhalle in Wildbad - Foto © Andreas Praefcke

Aktuelle Aufführungen

Exeget des absoluten Melos

BIANCA E GERNANDO
(Vincenzo Bellini)

Besuch am
23. Juli 2016
(Premiere am 15. Juli 2016)

 

 

Rossini-Festival Wildbad, Neue Trinkhalle

Vincenzo Bellini in Wildbad beim Rossini-Festival? Zumal im Jubiläumsjahr 2016, 25 Jahre nach dem eigentlichen Start im Herbst 1991 im idyllischen Schwarzwaldörtchen an der Enz? Ja, das passt. Und nicht allein deshalb, weil die erklärte Vorliebe des Intendanten Jochen Schönleber für den Belcanto der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts natürlich den größten Romantiker dieser Stilrichtung, eben das Genie von Catania, nicht aussparen kann. Und weil das Grundkonzept des kleinen, aber schmucken Festivals – anders als die große Konkurrenz in Pesaro – sich systematisch und sehr verdienstvoll darauf verlegt, die programmatische Vermittlung der Zeitgenossen und Wegbegleiter Rossinis in exemplarischen Aufführungen voranzutreiben. So die feinen Korrespondenzen und verdeckten Interdependenzen der Komponisten dieser Epoche aufzuspüren und den schlicht Belcanto-Begeisterten wie den Spezialisten zugänglich zu machen. Aus diesem Grundansatz ist in gut zwei Jahrzehnten so eine wahre Fundgrube entstanden. Bravissimo!

Schönleber und Reto Müller, sein unermüdlicher Rechercheur und Ausgräber, haben mit der 1826 für das Teatro di San Carlo in Neapel geschriebenen zweiten Oper Bellinis nichts weniger als eine heutige Erstaufführung in konzertanter Variante auf die Bühne der Trinkhalle gebracht. Für die eingefleischten Rossini-Kenner handelt es sich um die wuchtige Urfassung jenes Stoffes, der sich, zwei Jahre später unter dem Titel Bianca e Fernando in Genua herausgebracht, als Tor zur großen Opernkarriere des Sizilianers erweisen sollte. Steht Bellini 1828 am Anfang seiner Laufbahn, neigt sich die des Opernkomponisten Rossini im selben Jahr aus eigenen Stücken ihrem Ende zu. Seine vorletzte Komposition Le Comte Ory, in und für Paris geschrieben, zeigt den Virtuosen des Belcanto par excellence auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten, zugleich seine Grenzen erreichend. Aparterweise stehen beide Schlüsselwerke im Programm von Wildbad 2016 auf dem Spielplan. Ein launiger Querverweis auf gegenläufige Komponistenkarrieren und zudem eine Einladung an das Publikum, ganz genau beiden zuzuhören, zu reflektieren und Prozesse zu erkennen, die der musikalischen Entwicklung und der Weitergabe von Stafetten, im Falle Bellinis bekanntlich an Wagner und Verdi.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Domenico Gilardonis Libretto für Bianca e Gernando ist auch bei mildestem Bemühen als eher schwach einzustufen. Es wimmelt von Redundanzen und rhetorischen Fragen, die zwar großartige Koloraturen ermöglichen, jedoch wenig an packender Handlung. Im Kern geht es um das Drama der königlichen Familie zu Agrigent. Anfänglich wird Carlo, der Regent, von seinem Widersacher Filippo gestürzt. Dank des mutigen Eingreifens seines Sohnes Gernando und der Herzogstochter Bianca gelingt ihm nach allerlei Irrungen und Wirrungen die Rückkehr auf den Thron. Die einzelnen Handlungsstränge sind nicht immer einfach zu verstehen. Doch sind die Übertitel im Italienisch der Oper und in deutscher Übersetzung eine große Hilfe. Zumal die konzertante Aufführung immer wieder erlaubt, den Blick von den Musikern und Sängern auf der Bühne in der auch in diesem Jahr ein Stück weiter modernisierten Trinkhalle in die Höhe zum Bildschirm wandern zu lassen.

Foto © Rossini-Festival Wildbad

Bellini, zum Zeitpunkt der Uraufführung gerade mal 25 Jahre jung, nimmt die Schwächen des Plots offenkundig in Kauf. Prima la musica, zuerst kommt die Musik, heißt auch damals die Devise. Jeder Fokus auf die Kantilenen und Kavatinen des singenden Personals! Schreibt er doch die Opera seria in zwei Akten in erster Linie für den damals gefeierten Tenor Giovan Battista Rubini. In Maxim Mironov, Sänger der Rubini-Partie des Ermanno 2012 in der Wildbader Erfolgsproduktion I Briganti von Mercadante, vermag Antonino Fogliani, musikalischer Leiter des Festspiels und Dirigent der Aufführung, eine Besetzung des Gernando aufzubieten, die einfach vielversprechend erscheint.  Und mit der Norma-gehärteten Koloratursopranistin Silvia Dalla Benetta gibt zudem eine Sängerin den Part der Schwester, die längst zu den Arrivierten ihres Fachs gehört. Doch, bedauerlich, das große vokale Belcanto-Glück mag sich mit dem vermeintlichen Traumpaar dieser Produktion nicht wirklich einzustellen.

Mironovs subtiler Tenor meistert zwar die großen Linien der Rolle souverän und stilsicher, an die Rossini-Erfolge seiner Karriere anknüpfend. Ungeachtet aller Raffinesse und Ausdrucksqualität indes – bei Bellini verliert sich seine Stimme immer wieder in Unentschiedenheit und wohl auch an Vehemenz. Ist der Tenor letztlich schlicht zu schlank, bewegt sich der Sopran der Benetta im gegenteiligen Quadranten. Nun gut, die Oper dauert bereits rund 40 Minuten, als Bianca erstmals in das Geschehen eingreift. Ein Motiv für die italienische Sopranistin, nun mit kehliger Härte den Belcanto-Himmel zu Wildbad gleichsam auf einen Schlag erobern zu müssen? Der Eindruck hält sich bis in das zweite Finale, auch wenn ihr Duett mit dem Bruder durch Pastellfarben bezaubert, auch wenn ihre flehentliche Arie an die Adresse des Vaters, von der Harfe umspielt, an Innigkeit schwer zu überbieten sein dürfte.

Geben also die beiden Zugpferde in dieser vokalen Arena einige Rätsel auf, so überzeugen die weiteren Besetzungen fast ausnahmslos. Die Mezzosopranistin Marina Viotti besticht als Viscardo und weitet den Dialog zwischen Bianca und Gernando im ersten Akt zu einem gefühlvollen Terzett und insgesamt zu einem großen Moment. Von der Mezzosopranistin Mar Campo, Biancas Vertrauter, hätte mancher sicherlich gern mehr gehört. Doch hat Gilardoni ihr nur einen Mini-Auftritt vergönnt. Vittorio Pratto, in Wildbad ebenfalls seit I Briganti ein Begriff, gibt den Filippo, wie man sich einen Rebellen vorzustellen pflegt: voluminös, mit virilem Bariton, mal aufbrausend, dann wieder diplomatisch einlenkend. Als Carlo ist der Bass Luca Dall’Amico imperial, als Clemente der chinesische Bass Zong Shi respektabel, wenn er auch sein Vibrato zumeist zu sehr forciert. Der von Ania Michalak einmal mehr überzeugend einstudierte Camerata-Bach-Chor Poznan meistert seine Aufgaben souverän, ob nun anfänglich mit den Männerstimmen präsent, später mit denen der Frauen oder im gesamten Ensemble.

Der größte Reiz des Spektakels geht natürlich von der Musik aus. Wie der junge Bellini, hier schon der Exeget des absoluten Melos, die Introduktion an Stelle der später üblichen Ouvertüre spärlich-schwärmerisch instrumentiert und das Oboenspiel in das Rezitativ des Clemente sowie den Einstieg des Chores, der Männerstimmen aufsteigen lässt, berührt tief. Souverän schon jetzt sein Jahre später perfekter Einsatz von Flöte und vor allem Klarinette, nicht zuletzt der Harfe. Frappierend gekonnt seine Fähigkeit, beispielsweise durch Taktwechsel und Taktverlangsamung Effekte von großem Reiz zu organisieren. Exakt so verschiebt sich die sanguine Melodik im ersten Finale zugunsten eines heroischen Eindrucks. Die Virtuosi Brunenses, energisch inspiriert von ihrem erkennbar fordernden Dirigenten, zeigen sich in bestechender Form.

Die bei Fundstücken dieser Art unvermeidliche Frage nach dem originären Wert der Oper beantwortet das Publikum eindeutig durch anhaltenden Jubel und frenetischen Beifall für alle Akteure. Bellinis spätes Debüt an der Enz – ja, wohl dann doch, ein gewisses Belcanto-Ereignis, kostbar wie eben alles, was rar und verborgen ist.

Ralf Siepmann