Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Herwig Prammer

Aktuelle Aufführungen

Das Leid der Kinder

EL JUEZ - LOS NIÑOS PERDIDOS
(Christian Kolonovits)

Besuch am
2. Juli 2016
(Premiere)

 

 

Theater an der Wien

Nach einigen erfolgreichen Aufführungen in Bilbao, Erl und St. Petersburg gelangt die Oper El Juez – Los niños perdidos, zu Deutsch: Der Richter – die verlorenen Kinder, nun auch im Theater an der Wien zur Aufführung und wird für alle Beteiligten zu einem Erfolg. José Carreras, der in Wien nicht nur zahlreiche Fans hat, sondern auch das fachkundige Wiener Publikum besonders schätzt, hat sich das Theater an der Wien ausdrücklich als Aufführungsort gewünscht. Nach mehrjähriger Abstinenz von der Opernbühne begeistert der Sänger noch einmal sein Wiener Publikum in einer tragenden szenischen Rolle. Ihm zur Seite stehen ein hervorragendes Leitungsteam und ein ausgezeichnetes Ensemble aus Solisten, Chor und Orchester.

Das Thema der Oper El Juez ist von großer politischer Brisanz: Es geht um die Kinder nicht regimetreuer Eltern, die in Spanien zur Zeit der Franco-Diktatur ihren Eltern entrissen und in Klöster verschleppt wurden, wo sie dann umerzogen – oder besser gesagt: einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Diese Kinder, deren Namen geändert wurden, gingen für ihre Familien für immer verloren. Die Kirche, die federführend an der Entführung der Kinder beteiligt war, weigert sich bis heute, Aufzeichnungen und Informationen über die wahre Identität der „verlorenen Kinder“ preiszugeben – ein Konflikt, der die spanische Gesellschaft immer noch spaltet.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Der Komponist Christian Kolonovits stellt dieses dunkle Kapitel der spanischen Geschichte in den Mittelpunkt seiner vieraktigen Oper. Für Kolonovits, der selbst im Internat groß geworden ist und das Umfeld einer streng katholischen Erziehung hautnah kennengelernt hat, war die Arbeit an El Juez gleichzeitig eine Aufarbeitung seiner eigenen Kindheit. Tenor José Carreras – mit bürgerlichem Namen Josep Carreras – hat zur Franco-Zeit einen ganz besonderen Bezug, da seine eigene Familie sehr unter den Repressalien der Franco-Diktatur gelitten hat. Diese Umstände waren auch der Grund, warum der Sänger seinen bürgerlichen Namen Josep zunächst nicht führen durfte. Carreras selbst war es auch, der Kolonovits zur Komposition der Oper anregte.

Foto © Herwig Prammer

Die Inszenierung stammt von Emilio Sagi, das Bühnenbild von Daniel Bianco und die Kostüme von Pepa Ojanguren. Eduardo Bravo zeichnet für die Lichtregie verantwortlich. Die Inszenierung und das Bühnenbild sind insgesamt stimmig. Durch das gedämpfte Licht und das in dunklen Tönen gestaltete Bühnenbild wird jene düstere und bedrückende Stimmung suggeriert, die zur Zeit der Franco-Diktatur in der spanischen Bevölkerung vorherrschte. Riesige schwarze Stahlgitter symbolisieren die Klostermauern, hinter denen so viele Kinder verschwinden. Eindrucksvoll sind die Demonstrationsszenen, in denen die aufgebrachten Angehörigen die Bilder der verlorenen Kinder mit sich tragen und die Öffnung der Archive fordern. Diverse Bühneneffekte – wie etwa das gewaltsame Herunterfallen der nackten Puppen, die die verlorenen Babys symbolisieren sollen, oder das laute Zusammenknallen der Archivschränke im Büro der Äbtissin – verdeutlichen auf drastische Weise die Grausamkeit der Staatsgewalt. Von beklemmender Intensität ist die szenische Umsetzung des Chores der verlorenen Kinder, der sich beinahe wie ein Leitmotiv durch die ganze Oper zieht: Zum Gesang der Kinder wird auf einer Leinwand immer wieder das Bild der verlorenen Kinder eingeblendet.

Die Rolle des Richters Federico Ribas wurde Carreras auf den Leib geschrieben. Die Komposition der Titelpartie ist so angelegt, dass sowohl die stimmlichen als auch darstellerischen Stärken des Sängers gut zur Geltung kommen. Im Theater an der Wien läuft der Tenor noch einmal zu Hochform auf. Dramatische Spinto-Akzente wechseln mit lyrischen Passagen, so dass der Sänger sein stimmliches und emotionales Potenzial voll ausschöpfen kann. Von großer Intensität sind die dramatischen Attacken – wie etwa im wiederholten Ausruf „sistema cruel“. In den lyrischen Passagen begeistert der Tenor wie in früheren Zeiten durch sein ausdrucksstarkes Piano. Bewegend auch die zweite Szene des dritten Akts – jener Moment, in dem Federico im Kopf die Stimmen der verlorenen Kinder hört und das Haus Albertos als sein eigenes Elternhaus erkennt.

Alle Solisten bieten an diesem Abend hervorragende Leistungen. Sabina Puértolas brilliert mit ihrem wohlklingenden lyrischen Sopran in der Rolle der Journalistin Paula stimmlich wie auch darstellerisch. Dank ihrer gut ausgebildeten Belcanto-Stimme bewältigt sie auch die schwierigen Passagen in hoher Tessitura – wie etwa in der Streitszene gegen Ende des dritten Aktes. Ebenso souverän meistert José Luis Sola seinen Part als regimekritischer Liedermacher, der auf der Suche nach seinem verlorenen Bruder ist; mit seiner hell timbrierten Tenorstimme ist er für die Rolle des impulsiven Rebellen und Liebhabers geradezu prädestiniert. Von berührender Intensität ist das große Duett im zweiten Akt, in dem sich beide ihre Liebe gestehen. Das lyrische, in großen Belcanto-Bögen ausschwingende Thema des Duetts erinnert an den späten Puccini sowie an die Verismo-Opern von Francesco Cilèa, Alfredo Catalani oder Pietro Mascagni. Carlo Colombara verkörpert die Rolle des Dr. Morales, Vizepräsident des Geheimdienstes „Saubere Hände“, überzeugend: Mit sonorem Bass und starker Bühnenpräsenz beschwört er düstere Momente herauf und gewährt Einblicke in die dunklen Machenschaften des spanischen Geheimdienstes. Anna Ibarra gestaltet die Rolle der Äbtissin intensiv und glaubwürdig. Mit ihrem ausdrucksstarken Mezzo lässt sie tief in die Seele der sogenannten „schwarzen Elster“ blicken, die zerrissen ist vom inneren Konflikt zwischen Pflichtbewusstsein, Loyalität gegenüber der Kirche, ihren Muttergefühlen sowie dem allmählichen Erkennen ihrer eigenen Schuld.

Auch die anderen Solistinnen und Solisten bieten hervorragende Leistungen: Maria José Suárez als erste Nonne, Itziar de Unda als zweite Nonne, Manel Esteve als Kameramann Paco, Milagros Martín als eine alte Frau sowie Julian Henao Gonzalez, Thomas David Birch, Ben Connor und Stefan Cerny als vier Männer der Sauberen Hände.

Unter der souveränen musikalischen Leitung von David Giménez musiziert das ORF-Radio-Symphonieorchester Wien mit größter Präzision und Intensität. Das typisch spanische Klangkolorit – verstärkt durch Gitarrenklänge und Kastagnetten sowie Flamenco-Rhythmen – kommt gut zur Geltung.

Der in Wien bereits seit vielen Jahren etablierte Arnold-Schönberg-Chor unter der Leitung von Erwin Ortner bietet auch an diesem Abend wieder eine solide sängerische wie darstellerische Leistung.

Alles in allem eine eindrucksvolle Vorstellung, die das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Zum Schluss gibt es zu Recht viel Applaus für alle Beteiligten – und stehende Ovationen für José Carreras.

Allen Unkenrufen zum Trotz: Trotz seines Alters ist Carreras immer noch in guter Form. Dank seiner starken Persönlichkeit, seiner Ausdrucksstärke und Bühnenpräsenz versteht es der Tenor nach wie vor, das Opernpublikum in seinen Bann zu ziehen. Mit fast 70 Jahren eine solche stimmliche und darstellerische Leistung zu vollbringen, verdient in jedem Fall Anerkennung.

Sylvia Kreye