Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Some alt text
Alle Fotos © Anke Neugebauer

Aktuelle Aufführungen

Angst und die Sehnsucht nach Ordnung

DER FREISCHÜTZ
(Carl Maria von Weber)

Besuch am
6. Februar 2016
(Premiere)

 

 

Deutsches Nationaltheater Weimar

Viel ist beim Freischütz von der ersten deutschen Nationaloper die Rede. Schaut man tiefer in die Motivationsstruktur der Textvorlage, so findet man allgegenwärtige Ängste der handelnden Personen und Kollektive. Die Oper, die zur Zeit der Handlung nach den Verwüstungen des 30-jährigen Krieg spielt, und zur Entstehungszeit 1821 nach den Feldzügen eines übermächtig scheinenden Frankreichs geschaffen wurde, erscheint wie ein Abwehrreflex auf die Bedrohungen von Gewalt, Krieg und Eroberungsversuchen der Gebiete des späteren Deutschlands. Und durchaus nicht wie ein hehres, aus sich heraus und autonom formuliertes Ziel, erst recht nicht eines des Volkes.

Die Regisseurin Andrea Moses versteht es, mit einfachen, klaren darstellerischen und spielerischen Mitteln dieses Kaleidoskop von Ängsten für verschiedene geschichtliche Epochen und mehr noch für unsere Zeit sichtbar und empfindbar zu machen. Auf der politischen Ebene ist es der allgegenwärtige Konflikt der gesellschaftlichen Gruppierungen wie der in der Oper thematisierte Konflikt der Bauern und Jäger, die beispielhaft für diese Spannungsverhältnisse stehen. Im ersten Akt sind Ablehnung und der Überdruss alter Autoritäten in Gesellschaft und Religion deutlich ausgespielt. Auf der individuellen Ebene ist es der Konflikt zwischen den Jägerburschen Max und Kaspar, die um dieselbe Braut gefreit haben.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

In einer heutigen oder in die Zukunft gerichteten Perspektive ist es die Angst vor Handlungen und Technologien, die Menschen selbst geschaffen haben, und die nicht mehr beherrschbar sind. Beispiel dafür ist der Jungbrunnen des Menschenfängers Samiel, der in der Wolfsschlucht, einem Areal zwischen Computerraum und Schönheitsklinik, wie am Fließband medizinische Operationen zur Verjüngung von Patienten um den Preis von in die Körper verpflanzten und für die Beglückten nicht zu kontrollierenden Elektro-Chips vollzieht.  Im Hintergrund schlagen auf Videoformate vergrößerte Kurstafeln von Wirtschaftsdaten Kapriolen, die vollkommen außer Rand und Band geraten scheinen. In beiden Fällen sind wesentliche aktuelle globale Ängste aus Wirtschaft und Medizin adressiert, die die Menschen in ähnlicher Weise verängstigen wie der Krieg in anderen Zeiten.

Foto © Anke Neugebauer

Auch die Natur kommt nicht zur Ruhe, und die durch Teile des Volkes getragenen Mundschutzmasken mögen auf Gefahren aus einer weiter durch Menschen zerstörten Umwelt hinweisen. 

Diese Allgegenwärtigkeit der Verstörung und Angst vor dem Nichts wird zusätzlich durch eine akustische Klanggestaltung im Hintergrund evoziert, wobei ein stumpfes Raunen und Brummen die Ausbreitung des Bedrohungsgefühls während der Sprachszenen gleichsam physisch spürbar macht.
Diese sehr konkreten Ängste der Menschen wollen mit Menschen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft werden, sei es durch rituelle Handlungen der Bewährung, durch Ablenkung, Verdrängung oder Verheißungen. Die Mechanismen zur Bewältigung sind dabei so vielfältig wie die Bedrohungen selber: hier die angestrengte Verdrängung durch Spaß und Spiel von Ännchen, dort der coole, damenhafte Auftritt von Agathe.

Dabei gibt es Parteien, die etwas zu verlieren haben. So zum Beispiel Samiel, der von seiner Schuld durch die Tötung des von ihm abhängigen und allgemein schuldig befundenen Kaspar von sich selbst ablenken kann. Oder die anderen Vertreter der gesellschaftlichen Ordnung, die politische Macht oder ihre religiöse Autorität erhalten und die bestehende Ordnung bewahren wollen: Fürst Ottokar, dessen zuarbeitender Erbförster Kuno und der Eremit. Nur deshalb und um Aufruhr zu vermeiden, stimmt der Fürst sicherheitshalber dem mehrheitlichen Bitten des Volkes zu, die ursprünglich ausgesprochene Verdammung Max‘ zurückzunehmen, und führt statt des Probeschusses nun ein Probejahr für den künftigen Erbförster ein, das Max nunmehr statt der Verbannung ableisten muss.

Nach den gefährlichen Wirrungen des Freischusses und Max‘ Verbleibs in der Gemeinschaft verharrt das Volk einen Moment unentschlossen nach einer bewältigten Gefahr, um nach einer unbestimmten, hilflos wirkenden Aufforderung des Eremiten – und anders als im ersten Akt – zu einem scheinbar christlichen oder zumindest zum Religionsersatz taugenden Text erneut Zutrauen und Beruhigung in den vorherrschenden, gewohnten Verhältnissen zu finden. Im Hintergrund prosten sich Samiel, Kuno und der Eremit angesichts der erfolgreichen Bewahrung des status quo gegenseitig und in großer Heiterkeit zu.

Es bleibt eine offene Frage, ob und wann die Beteiligten und das Volk in seiner nachhaltigen Sehnsucht nach einem friedvollen Umfeld und nach allen andersartigen Erfahrungen noch willig und fähig wären, die Verhältnisse weitergehender zu hinterfragen.

Von den beiden Jägerburschen als Außenseitern und Konkurrenten verbleibt nur Max. Er mag die Zumutung des Probejahres am Ende nicht recht zu akzeptieren und liefert sich darob mit der anders gestimmten Agathe seinen ersten gemeinsamen, handfesten Ehestreit – eine unerwartete menschlich, allzu menschlich-ironische Wendung. Auch wenn die beiden hochgestimmten Brautläute in spe noch aufeinander warten müssen, können sie schon trefflich streiten wie ein altes Ehepaar. 

Wie schon in anderen Inszenierungen gelingt es Moses, diese aktuellen Themen durch Leichtigkeit, ohne moralischen Zeigefinger, mit Ironie und frappierender Erzählfreude zu transportieren und in ihrer Bedeutung sichtbar zu machen. Werkelemente der Entstehungszeit, der Handlung und des Heute werden mit Klarheit zueinander geführt und mit großer, einfühlsamer Liebe, auch hinsichtlich der Schwächen der Menschen dem Zuschauer vor Augen geführt.

Dabei wird sie von ihrem vertrauten Team begleitet: die Drehbühne, die mit wenigen Requisiten auskommt und mit sparsamen Elementen ungemein wirksame Bilder schafft, wird von Jan Pappelbaum verantwortet, die Kostüme von Christian Wiehle, Licht von Jörg Hammerschmidt und die Videoeinspielungen von Bahadir Hamdemir.  Die elektroakustische Klanggestaltung der Angstbedrohung wurde von Paul Hauptmeier, Sergio Valencia und Martin Recker gestaltet.

Heiko Börner spielt und singt den Außenseiter Max mit großer und in den relevanten Szenen gepresster Ausdruckintensität. Die Agathe der Heike Porstein erfüllt in Stimme und Ausdruck alle Facetten der Sehnsucht und Verunsicherung. Die Stimme klingt vor allem in den Höhen ihrer Arien berückend und ergreifend. Kraftvoll und ausdrucksstark der Kaspar von Uwe Schenker-Primus. Das Trio der Bewahrer mit Alik Abdukayumovs Ottokar, Sebastian Campiones Kuno und Daeyoung Kims Eremit erfüllt auf allen Ebenen die Anforderungen der Partien und wird den schauspielerischen Anforderungen der Produktion mit viel Spielfreude gerecht. Die neidischen Brautjungfern werden wirkungsvoll von Susann Günther, Katrin Niemann, Diana Schnürpel und Silvia Schneider gesungen und dargestellt, Kilian ist Chao Deng. Die Sprechrolle des Samiel verkörpert Hahuel Häfliger mit Ironie und gekonnt-überlegener, macho-blasierter Lässigkeit.

Der Chor des Nationaltheaters unter der Leitung von Markus Oppeneiger überzeugt in Spiel und flexiblem Gesang. Die Staatskapelle Weimar unter Martin Hoff spielt durchsichtig, mit viel Liebe zum Detail und im Verlauf immer exakterer, gemeinsamer Rhythmik.  

Großer, langer Applaus für alle Beteiligten, Bravorufe für Heike Porstein, Steffi Lehmann und Uwe Schenker-Primus sowie das Orchester. Das Nationaltheater Weimar kann stolz sein, eine solche Produktion zeigen zu können – man darf sie nicht verpassen.

Achim Dombrowski