Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Vincenzo Larea

Aktuelle Aufführungen

Von einem, der den Platz im Leben nicht findet

DER FREMDE
(Susan Oswell)

Besuch am
1. November 2015
(Premiere am 20. Oktober 2015)

 

 

Theater Trier

Ein Stuhlkreis auf der Bühne, ein Tisch, zwei Eimer voller Sand, mehr braucht das Bühnenbild in Rosamund Gilmores Inszenierung nicht, um das Tanzstück Der Fremde nach dem Roman von Albert Camus auf die Bühne des Theaters Trier zu bringen. Die Bühne tritt zurück zugunsten der Musik von Komponistin Susan Oswell und ihrer Choreographie.

Meursault wird zur Beerdigung seiner Mutter gerufen. Bei der Beerdigung ist er, was er sein ganzes Leben lang war: eine Randfigur. Meursault kann kein Teil der Gesellschaft sein, er kann sich nicht eingliedern. Selbst als er eine Liebesbeziehung eingeht, selbst als er Zeuge eines Angriffs, eines sexuellen Übergriffs wird, selbst als er einen Mann erschießt und zum Tode verurteilt wird: Meursault bleibt ein Außenstehender. In Camus‘ Romanvorlage versöhnt Meursault sich in seinen letzten Tagen mit der Welt, ihre Gleichgültigkeit erscheint ihm vertraut, fast brüderlich zu seiner eigenen gleichgültigen Gefühlslage. In Gilmores Choreographie tritt er von der Gesellschaft zurück, die beiden Eimer, in denen unaufhörlich Sand von einem in den anderen geschüttet wird, werden von der Bühne getragen. Seine Lebenszeit ist abgelaufen. Wasser regnet auf Meursault hinab und verwäscht seine Existenz.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Gilmores‘ Sprache ist einfach, aber klar. Schnörkellos, dafür akzentuiert. Der Anfang ist bedrückend, die Bühne ist halbdunkel, es herrscht Sonnenaufgangsstimmung. Ein Mann im weißen Anzug sitzt auf einem Tisch, gebannt starrt er in das Dunkel vor sich, um ihn herum ein Stuhlkreis. Unter jedem Stuhl liegt ein Mensch in schwarzer Unterwäsche. Die Musik schafft Schrecksekunden, kein schönes Erwachen. Zur ebenso lyrischen, wie beklemmenden Musik von Oswell winden sie sich in ihre schwarzen Anzüge und unter ihren Stühlen hervor, stecken die Köpfe in schwarze Hüte. Verena Hemmerleins spärlich eingesetzte Ausstattung unterstützt die akzentuierte Arbeitsweise von Gilmore. Die Stühle sind keine Sitzmöglichkeiten, sie sind im übertragenen Sinne der „Platz im Leben“, die gesellschaftliche Ordnung, mit der man ringt, bis man Platz auf ihr angenommen hat. Da ist es nur eine logische Schlussfolgerung, dass Gilmore aus ihnen die Gefängnismauern baut, in denen Meursault auf seine Hinrichtung wartet. Gilmores Choreographie ist eine Choreographie der kleinen Gesten, die erst in Zusammenspiel und Masse den gewünschten Effekt haben. Im Einklang mit Oswells Musik entsteht ein Konstrukt wie aus einem Guss.

Foto © Vincenzo Larea

Die neuen Tänzer des Theaters Trier geben mit dieser Produktion ihren Einstand. Ziv Frenkel, zwar ein Gast, tanzt den Meursault bewusst still, aber umso eindringlicher. Er verleiht dem Protagonisten eine fast hypnotische Aura, gleichzeitig wirkt er selbst wie hypnotisiert von den Vorgängen um ihn herum. Er bleibt reglos und beobachtet, versetzt so das Gesehene in den Mittelpunkt, ohne selbst als Zentrum der Inszenierung zurückzutreten. Seine Kollegen verschmelzen mal zur verkörperten Gesellschaft im schwarzen Anzug, mal zur lebendigen Masse klar unterscheidbarer Individuen.

Der musikalische Leiter, Wouter Padberg, versteht es, der Musik Oswells Leben einzuhauchen. Das Orchester spielt unter seiner Leitung sauber, mit Elan, ohne Hetze, schwingt sich auf die Stimmung ein, ohne Höhepunkte zu verlieren oder zu überzeichnen. Es wandert gekonnt auf dem schmalen Grat, ohne die Verbindung zur Choreographie ins Wanken zu bringen. Ein starker Partner für die Choreographie. 

Das Publikum reagiert im schwach besetzten Großen Haus wohlwollend mit lang anhaltendem Applaus.

Stefanie Braun