Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Johannes Amersdorfer

Aktuelle Aufführungen

Auf der Suche nach dem neuen Musiktheater

SIRENEN
(Ann Cleare, Brigitta Muntendorf,
Wen Liu, Sarah Nemtsov)

Besuch am
18. Juni 2016
(Einmalige Aufführung)

 

Theater und Konzerthaus Solingen

Über den Begriff „Musiktheater“ lässt sich trefflich streiten. Angefangen von der Geburtsstunde der Oper aus dem Geist der griechischen Tragödie über die Reformen Glucks, Mozarts und Wagners bis hin zu modernen und zeitgenössischen Experimenten von Lachenmann, Nono, Hölszky und Kollegen. Das Gesicht des Musiktheaters wandelt sich stets und widerlegt umso nachhaltiger die These vom Tod der Oper, je hartnäckige sie wiederholt wird. Das Salzburger Taschenopernfestival begibt sich seit einigen Jahren auf die Suche nach neuen Formen des Musiktheaters, lässt sich dabei zum Glück nicht vom Leitartikel seines Programmhefts irritieren, in dem der Komponist und langjährige Leiter des Stuttgarter Eclat-Festivals, Hans-Peter Jahn, mit Thesen provoziert, nach denen so gut wie nichts als Musiktheater bezeichnet werden dürfte, was in irgendeiner Weise komponiert worden sei. Goethes Faust und Shakespeares Stücke kommen seinem Ideal des Musiktheaters noch am ehesten nahe. Stücke, in denen der Streit um die Dominanz von Wort oder Ton eindeutig zugunsten des Wortes entschieden ist.

Die vier Komponistinnen, die für das letztjährige Taschenopernfestival fünf 20- bis 35-minütige Mini-Opern geschaffen haben, sehen das anders und entwerfen ein interessantes Spektrum unterschiedlicher Annäherungsversuche an das Genre. Das trotz des bescheidenen Festival-Titels aufwändige Projekt wird zurzeit in Nordrhein-Westfalen gezeigt. Vor Aufführungen in Gelsenkirchen und Köln ist der zweistündige, für zwölf Musiker, vier Schauspieler, sechs Sänger und Kinderchor gestrickte Theaterabend jetzt im Solinger Theater und Konzerthaus zu erleben. Im dortigen Pina-Bausch-Saal bleiben zwar etliche Plätze leer, doch angesichts der anspruchsvollen Materie und der nicht in allen Punkten überzeugenden Ergebnisse hält sich die Abwanderung des Publikums während der Pause in Grenzen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Thierry Bruehl, der künstlerische Leiter des Festivals, macht es den Künstlern, dem Publikum und sich selbst als Regisseur von drei Stücken des als Sirenen betitelten Zyklus‘ auch nicht leicht, indem er den Arbeiten eine der komplexesten Stellen aus einem der komplexesten Romanstoff der Literaturgeschichte zugrunde legte, die nicht unbedingt nach einem Musiker ruft: nämlich die Sirenenszene aus James Joyce Ulysses. Homers Sirene, ein Mischwesen aus Frau und Vogel, lockte mit ihren Gesang Fischer in den Tod. In Joyces Jahrhundertroman begegnet der Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom am 16. Juni 1904 bei seinem Gang durch Dublin den Irrfahrten des Odysseus wieder – transformiert in die Komplexität moderner Zeiten. Mit einer in Bilder, Assoziationen und Gedanken aufgelösten Sprache folgt das gesamte Geschehen der Sirenenszene einem fragmentierten, collagenhaften „Bewusstseinsstrom“. Die Sirenen sind nun Bardamen, denen Bloom kurz vor 16 Uhr in der Ormondbar begegnet, nebst Blaze Boylan, der eine Liaison mit seinem Weib hat, und anderen schrägen Gestalten, die saufen, rauchen, schwadronieren und musizieren.

Foto © Johannes Amersdorfer

Vier Komponistinnen, über die man im Programmheft leider nichts erfährt, kneten, wandeln, verzerren den Text auf unterschiedliche Weise, verfremden ihn elektronisch oder lassen ihn ohne musikalische Überhöhung für sich sprechen. Zu erleben sind Rinn von Ann Cleare, Bronze by Gold von Brigitta Muntendorf, The End of the Song von Wen Liu, Defekt von Sarah Nemtsov und abschließend Missing Jagoda als „Musiktheater für einen (fast) stummen Bariton, eine singende Schauspielerin, zwei Schauspieler und ein Mädchen“. Das letzte Stück verzichtet auf neu komponierte Musik und entpuppt sich als Musiktheater ohne Musik, also als Sprechstück in einer Fassung von Regisseur Thierry Bruehl. Wohl der einzige Beitrag, der Gnade vor den strengen Augen Hans-Peter Jahns finden dürfte, der aber zugleich die Problematik des Projekts spiegelt.

Letztlich scheinen Joyces aberwitzig absurde, surreale Wortkaskaden des Prologs wie auch die reportagehaft nüchternen Beschreibungen rund um die Bar die Komponistinnen weniger zu kreativen Lösungen zu motivieren als vielmehr zu hemmen. Letztlich legen sich die akustisch mehr oder weniger verständlichen, inhaltlich ohnehin nicht ohne weiteres zu erschließenden Textfetzen wie eine bleischwere Glocke über die Stücke. Spielfreude kommt nur selten auf. Das meiste präsentiert sich als Melodram in ritualisiert starren Bewegungsmustern, wenn sich überhaupt etwas bewegt. Befreiungsakte sehen anders aus. Ein Widerspruch, der sich auch in der Architektur des Bühnenraums findet. Einerseits zementiert ein Treppengerüst im Hintergrund die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Künstler, andererseits suggeriert die bis in den Zuschauerraum vorgezogene Spielfläche einen Bewegungsdrang, der nur punktuell bedient wird. 

Bezeichnend bereits der Auftakt mit Ann Cleares Rinn. Eine musikalische Paraphrase des Prologs in englischer Sprache, von vier Frauen in schillernden Kostümen brav vorgetragen. Das stellt bereits hohe Anforderungen an das Publikum, wobei das Verständnis des Textes durch die elektronisch durchsetzten Klangfetzen der Komposition noch zusätzlich erschwert wird. Langsame hohe Töne assoziieren Sirenengesänge, die einen stumm vor sich hinsitzenden Mann zeitweise in Bedrängnis bringen. Mehr als statisches Stehtheater bringen sowohl die Regie Bruehls als auch die Musik Cleares hier nicht zustande.

Und viel mehr auch die meisten anderen Stücke nicht. Am originellsten präsentiert sich noch Brigitta Muntendorf mit Bronze by Gold, die den Barbetrieb thematisiert und die Erlebnisse des Mädchens Bronze in ihrem „Musiktheater für Sopran, zwei Schauspieler, vier Knabenstimmen, Ensemble und elektronischem Zuspiel“ von zwei clownesken Conférenciers kommentieren lässt. Und das ebenfalls in der Regie von Thierry Bruehl mit anwachsender Vitalität, die sich musikalisch von diffusen Klängen bis hin zu beinharten Rockrhythmen steigert. Annika Boos als unschuldig wirkendes Mädchen Bronze im Schulmädchen-Outfit sowie Thomas Hupfer und Klaus Nicola Holderbaum als virtuos über die Spielfläche wirbelnde Conférenciers beeindrucken hier mit Leistungen, die zum Besten des Abends gehören.

Die zwölf Musiker des Kölner Ensembles Garage erweisen sich unter Leitung von Mariano Chiaccharini als exzellente Vollstrecker der akustischen Vorgaben. Alle Mitwirkenden tun ihr Bestes, wobei sich mit diesem Ensemble mit einer anderen Text- und Stoffvorlage noch stärkere Eindrücke und Leistungen mobilisieren lassen könnten.

Dem Publikum darf man nicht übelnehmen, dass der ein oder andere das Theater vorzeitig verlässt. Ein Abend zum Genießen ist es nicht und soll es auch nicht sein. Umso aufmerksamer und begeisterter reagiert die überwiegende Zahl der Verbliebenen.

Pedro Obiera