Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Sean Young

Aktuelle Aufführungen

Magie des Varietés

SCOTCH AND SODA
(Company 2)

Besuch am
18. Mai 2016
(Deutsche Erstaufführung)

 

Ruhrfestspiele Recklinghausen,
Kleines Theater

Der Koffer hat Füße und kann laufen, der Kontrabass ist gefesselt, die altersschwache Tuba hustet ein wenig, auf dem Minimalschlagzeug blühen Blumen, das Fahrrad kann vieles, nur nicht verkehrssicher fahren – und die Zuschauer warten darauf, wann das Steckenpferd über die Bühne trabt … – seltsame Arbeitsgeräte für zehn Schauspielermusikartisten, die im Kleinen Theater der Ruhrfestspiele ihr „Anything-Goes“-Programm vorstellen, das sie aus Australien mitgebracht haben. Und die Zuschauer geraten schon bald allein vom Zuschauen außer Atem.

Die Company 2 der australischen New-Circus-Truppe nimmt die Zuschauer mit ins Varieté der wilden 1920-er Jahre, wie sie es sehen. Die fünf Musiker der Uncanny Carnival Band, gestartet als Brass band, sind wie jede Zirkus-Band Multitalente: Da gibt es allein vier Saxophone, eine Tuba aus dem Antiquitätenshop, ein Horn, eine Posaune, den gefesselten Kontrabass oder das elektrische Banjo, ein Schlagzeug in vielen Variationen, den Schellenbaum – mal spielt auch der Fußboden mit oder ein Körperteil – Zirkus eben. Aber auch Jazz vom Feinsten, im Dixieland-nahen locker-fröhlichen Sound. Die Band liefert nicht nur die Trommelwirbel zu den halsbrecherischen Pirouetten der Seilkünstler am Trapez oder Seil, ihre Nummern haben ihren eigenen Stellenwert im Programm.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die anderen fünf Misfits, wie sie sich auch nennen, fahren zu Dritt übereinander auf dem Fahrrad, balancieren auf Zehenspitzen über Champagnerflaschen, machen dann noch den Handstand auf der sechsten übereinander gestapelten Kiste, gehen mit Kontrabass und Koffer auf eine umständliche Reise, verheddern sich mit ihrem E-Banjo im Fahrrad, hängen sich – fast – am Seil auf und zeigen , wie kompliziert es ist, zu zweit ein fünf Meter langes Wasserrohr über die Bühne zu transportieren. Ein Tisch ist natürlich kein Tisch, sondern ein variables Akrobatikinstrument, das auch nicht auf seinen vier Füssen stehen muss.

Foto © Opernnetz

Kate Muntz probiert am Trapez aus, wie viel Fußkontakt sie noch braucht, um eventuell nicht doch … abzurutschen, und das alles im Rumba-Takt. Wenn die Zuschauer beim Spiel mit Kisten und Holzklötzen längst die Übersicht verloren haben, turnen zwei Akrobaten darauf munter in die Höhe. Zu den Clown-Nummern, die natürlich nicht fehlen dürfen, gehören die Turnübungen am WC und ein erfrischender Schluck aus der Schüssel … Chelsea McGuffin hat ihre Company 2 auf Tempo, Genauigkeit und Witz getrimmt und mischt selbst kräftig akrobatisch mit.

Die zwei Damen und acht Herren dieser Truppe sind allesamt schräge Vögel, die vor keiner „unmöglichen“ Aufgabe Halt machen. Fast alle haben eine professionelle Zirkus- oder Instrumentenausbildung. Es gehört zum Konzept der Truppe, auf Dialoge völlig zu verzichten, die Instrumente tragen die Kommunikation und Emotionen. Es geht immer ohne Worte direkt „zur Sache“. „Scotch & Soda is circus and jazz, served straight up“.

Heute haben die Ruhrfestspiele längst die Gründungsidee verwirklicht, „Schauspiel, Oper und Konzert dem schaffenden Menschen“ zu vermitteln. Seit vielen Jahren gehören kabarettistische Programmteile ebenso zum Festspielangebot wie zirzensische Auftritte – so ist wirklich eine „Demokratisierung des Theaterbesuchs“ gelungen.

Das empfinden auch die begeisterten Zuschauer von Scotch and Soda. Die Mischung aus stimmungsträchtigem Scotch und belebend-kribbelndem Soda schmeckt ihnen bestens, längst ist der Funke von der Bühne in den Zuschauerraum übergesprungen – und der lang anhaltende Schlussapplaus geht in den Schluss-Abmarsch über.

Horst Dichanz