Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Hana Smejkalová

Aktuelle Aufführungen

Prager Weihnacht

LA BOHÈME
(Giacomo Rossini)

Besuch am
19. Dezember 2015
(Premiere am 23. Oktober 2008)

 

 

Staatsoper Prag, Nationaltheater

Fordert ein Haus oder entschließt sich ein Regisseur für librettogetreue, klassische Inszenierungstraditionen, so steht er vor mehreren Problemen. In Zeiten von YouTube-Bibliotheken, DVD-Sammlungen und Bildarchiven stellt er sich automatisch dem Vergleich mit einer Vielzahl gefeierter und liebgewonnener Produktionen – mittlerweile aus aller Welt. Zudem fehlt die persönliche Note, seine Interpretation; hält er sich strikt an Ausstattungs-, Bühnen- und Szenenvorschriften, kann er sich nicht produzieren.

Diesem Problem stellte sich auch Multitalent Ondrej Havelka, der 2008 für die Prager Staatsoper die Bohème neu, doch im alten Gewand gestalten sollte. Der Filmemacher und Fernsehmann kreiert mit seinem Team eine durchweg romantische, man könnte sagen typische Inszenierung ohne viel Experimente. Und ihm gelingt, die emotionale Wucht des Stoffes publikumswirksam, doch nicht zu exponiert zu vermitteln. Als eigenen Beitrag schneidet er an zwei Stellen in die Musik. Er stellt dem ungewöhnlichen Vorspann, der auf den Vorhang projiziert wird, eine kurze Miniatur voran, in der Schaunard im Sarg schläft, die jungen Bohemiens über ihre Armut witzeln und kaum hat sich die Szene eröffnet, endet sie im Freeze, der Vorhang schließt sich und das Bohème-Thema erklingt. Ein zweites Mal schneidet er, als Mimi sich am Tisch ausruht. Auch hier verstummt die Musik, und lautes Husten klingt aus den Lautsprechern, danach setzen die Sänger zum Oh soave fanciulla an. Ob die Unterbrechung stört oder die Pause nötig ist, sei dahingestellt, notwendig sind die partiellen Abweichungen sicher nicht, denn außerhalb dieser liefert Havelka präzises Personenspiel gerade unter den WG-Kumpanen, baut ein sehr schönes Massentableau im zweiten Akt samt Pappkameraden, die den Chor auffüllen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Martin Cernys moderate Bühnenbilder konzentrieren sich auf ein Oben und Unten. Aus der Kellerwohnung beobachten die Künstler die Beine der vorbeieilenden Passanten. Aus dem ersten Stock des Momus schaut die Gesellschaft den Trommeln zu, auch Mimi beobachtet Rodolfos Leiden in der Vorstadt von einem Balkon. Klassisch, doch edel von Jana Zborilova eingekleidet, fallen die liebevollen Details wie der zu kurz geratene Firmlingsanzug des Knabensolisten im zweiten, sowie Marcellos schmutziger Malerkittel im ersten und vierten Bild auf.

Foto © Hana Smejkalová

Ähnlich wie in anderen Städten hat sich auch in Prag die Weihnachts-Bohème zur Tradition entwickelt. Das Publikum lacht und weint, man kennt die Bilder und liebt die Musik. So gelingt auch diese nicht außergewöhnliche Produktion trotz störender Einfälle wie dem Umbauspiel von Rodolfo und Mimì, die vor dem Vorhang Schattentiere an die Wand fingern müssen, bevor die Szene weitergehen kann. Havelka liefert eine Bohème, die schwerlich nicht funktionieren kann, und könnte sich im Ideenreichtum doch etwas zurücknehmen.

Das müssen die Sänger des Abends nicht. Pavla Vykopalová überstrahlt mit ihrem Sopran als Mimì alle Kräfte des Abends um Längen. Lyrisch, metallen, mit leichtem Akzent überzeugt sie vor allem in den leisen Momenten, im dezenten Spiel und mit ihrer Stimmwärme, die begeistert. Eine würdige Musetta an ihrer Seite ist Andrea Vizvári mit sehr sauberer Koloratur, mit femininer Spielfreude und der seltenen Gabe der Zurücknahme für wunderbar abgestimmte Duette und die beiden Quartette. Bei den Herren wird es stiller. Rodolfo Luciano Mastro ist am Ende zu den Mimì-Rufen deutlich angestrengt, seine helle Klangfarbe bleibt körperlos, sehr effektorientiert und dennoch fahl. Schöner steht ihm Martin Bárta als Marcello gegenüber, der, prächtig aufgelegt, liedhaft und dunkel schattiert, eine überzeugende Leistung abgibt. Deutliche Einschnitte im Stimmvolumen muss man bei Jiří Sulzenko als Colline hinnehmen.

Diese aber macht der groß besetzte, auch mit Kindern besetzte Chor der Staatsoper unter Adolf Melichar wett. Prächtig klingt der zweite Akt ebenso wie der Milchfrauen-Chor, nie überzogen, doch auf hohem Niveau und sehr galant von Jiří Strunc angeleitet. Dieser entscheidet sich für eine schnelle, doch nicht hektische Melodieführung. Entstaubt und frisch klingen so Puccinis Klassiker. Nicht immer stimmt zwar die Kommunikation mit den Sängern, doch das Orchester trägt einen entscheidenden Beitrag zur rührenden Suggestivkraft dieser Musik bei. Zusammen mit Mimì Pavla Vykovpavlová entstehen Momente, die sich zweifelsfrei bei einer klassischen Inszenierung dieses Stoffes einstellen: Ein romantisches, melodisches, wundervolles Wintermärchen, das immer auch im klassischen Gewand bleiben wird.

Freundlicher, nicht übermäßiger Applaus und Blumen für Mimì.

Andreas M. Bräu