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Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Jesús Vallinas

Aktuelle Aufführungen

Die gefährliche Macht des Wahnsinns

LATENT
(Goyo Montero)

Besuch am
18. Dezember 2015
(Premiere am 12. Dezember 2015)

 

 

Staatstheater Nürnberg

Verwirrend, verstörend der Blick hinter die seelischen Zustände eines Menschen, der sich zwischen Wahnsinn, rauschhafter Halluzination und zwanghafter Illusion bewegt wie in einem Gefängnis seiner selbst. Das Nürnberger Ballett unternimmt diesen Streifzug in den Bereich des Bewusstseinsverlustes, der Destabilisierung der menschlichen Psyche mit Latent. Der spanische Choreograf Goyo Montero hat sich dazu inspirieren lassen von der Symphonie Fantastique von Hector Berlioz. Er kennt dieses Werk schon aus seiner Leipziger Zeit, als er es unter Uwe Scholz vertanzte und davon begeistert war. Angeregt hat ihn außerdem die Geschichte, die hinter der Entstehung dieser revolutionären Symphonie aus dem Jahr 1830 steckt, nämlich die ans Wahnsinnige grenzende Liebe von Berlioz zur Schauspielerin Harriet Smithson. Seine emotionale Besessenheit scheint hier in einer Art Programmmusik auf: Ein über-empfindsamer junger Musiker hört nach der Einnahme eines Narkotikums, in einem Zustand mentaler Unzurechnungsfähigkeit, überall die Geliebte als Melodie, als fixe Idee. In der Symphonie durchzieht sie als Leitmotiv alle fünf Sätze.

Montero, der auch Goethes Faust gut kennt, gestaltet zu dieser Musik getanzte Traumvisionen und Obsessionen eines jungen Mannes, dessen verzweifelter Zustand an Paranoia grenzt und in eine irreparable Persönlichkeitsstörung mündet. Zusätzlich für sein Vorhaben hat sich Montero bei Psychotherapeuten informiert und das Verhalten von Patienten in der Psychiatrie beobachtet. Verstärkt wird der Eindruck des Rauschhaften, Verwirrenden noch durch die Komposition des Kanadiers Owen Belton; der hat ein Sounddesign aus Sprechen, Lachen und analogen Geräuschen, die nicht genau einzuordnen sind und irgendwie Unangenehmes ausstrahlen, sowie aus orchestralen Zitaten von Berlioz geschaffen. Das ist manchmal eingeschoben zwischen den Sätzen, fügt sich aber bestens ins Gesamtkonzept ein. Die Staatsphilharmonie Nürnberg unter Gábor Káli schwelgt bei Berlioz in rauschhaften Klangfarben, in geradezu sehnsüchtiger Suggestion, ruhig zelebriert, und erzielt damit atmosphärische Sogwirkung, steigert sich in den letzten beiden Sätzen zu irisierenden, furiosen Klangballungen. Dennoch fasziniert die tänzerische Ausgestaltung noch stärker.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Auf der dunklen, kahlen Bühne von Eva Adler und Goyo Montero blickt man immer wieder in einen abgeschlossenen, grauen, nahezu leeren Raum mit Tisch und Stuhl wie in das Zimmer einer Irrenanstalt, Symbol wohl für die innere, verborgene, unzugängliche Welt eines Wahnsinnigen, aus der er sich kaum befreien kann, es sei denn in seinen Träumen. In denen erblickt er immer wieder sein unerreichbares Sehnsuchtsziel, eine fixe Idee, aber auch andere Wesen, die ihn bedrängen, Doppelgänger, Schatten, Spiegelbilder, die Gesellschaft um ihn herum, die er nicht versteht. All das verwirrt, verstört ihn. Sie begegnen ihm vor allem in einem hohen Raum mit Vorhängen, spähen dazwischen heraus, formieren sich zu Figuren, in denen er sich verliert. Sie verstören ihn mit ihren Aktionen, etwa im zweiten Satz beim Ball, als die weiten schwarzen Röcke ihn im Walzertakt umkreisen, und als dunkle, gesichtslose Masse in ihren Einheitsanzügen oder Trikots von Angelo Alberto und Goyo Montero verstärken sie das Bedrohliche. Manchmal auch irritiert den Mann das Licht, das hinter der Mauer weitere Gestalten ahnen lässt oder ihn blendet; Olaf Lundt gelingt damit ein raffinierter Effekt.

Foto © Jesús Vallinas

Grandios aber ist, was das 20-köpfige Tanz-Ensemble an Präzision, an überraschenden, grafisch wirkenden Formationen und an extremem, körperlichem Einsatz, sogar kopfüber oder die Wand hinauf leistet. Immer aber im Licht steht der junge Mann im blauen Anzug, Max Zachrisson. Wie er sich streckt, windet, abwartet oder flieht, sich flink dreht oder schnell läuft und rutscht, dann wieder einhält, vermittelt er den Eindruck eines Orientierungs- und Ruhelosen, der sich nur nach einer sehnt, nach der weiblichen Idée fixe. Sayaka Kado zeichnet sie mit kraftvoller Körperlichkeit, aber auch geschmeidig, elegant bis in die Handbewegungen, mit denen sie den Mann dirigiert. Wunderbar die oft zu kurzen Pas de deux der beiden. Alles vereint sich in der fließenden, sich ständig verändernden, von gymnastischer Dynamik bestimmten Bewegung aller Tänzer. Am Schluss wird der arme junge Mann völlig wahnsinnig, kehrt in seine einsame Zelle zurück, in das Gefängnis seiner Seele.

Riesenbeifall und viele Vorhänge für die exzellente Nürnberger Ballettkompanie, die Protagonisten, den Dirigenten und das Orchester vom ausverkauften Haus bei der dritten Vorstellung.

Renate Freyeisen