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Peter Konwitschny scheut den Tod seiner Protagonisten und lässt sie oft abweichend von der Vorlage ins Weite entkommen. So auch in der Neuproduktion, die jetzt in Nürnberg die Saison eröffnet hat. Boris Godunow stirbt nicht, sondern hängt sprichwörtlich seine Zarenkrone an den Haken, um in luftiger Urlauberklamotte zu neuen Gefilden im Exil zu entfliehen.
Vorangegangen ist ein verzehrender Aufstieg und Fall des tatarischen Adligen Boris Godunow, der von der staatstragenden Schicht der Bojaren berechnend zum Zaren bestimmt wird. Anschließend darf das geknechtete und immer teilnahmslose Volk, unter Gewaltandrohungen zum Kasperletheater herbeigerufen, ihn schließlich zum Zaren wählen. Die Bojaren und unter ihnen der Intrigant Schuisky – mit eigenen Hoffnungen auf die Zarenkrone – verstehen jedoch, Boris wiederholt mit der Ermordung des angeblich rechtmäßigen Thronfolgers, des heiligen Dimitri, in Verbindung zu bringen, so dass Boris sich unter dem Überdruck der Stimmung im Volke gegen ihn aus der Macht- und Zarenrolle ins Exil zurückzieht.
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Er hat weder Halt im Kreis der Bojaren noch im Volk, obwohl er es ganz offenbar zu goldenen wirtschaftlichen Zeiten geführt hat.
Kasperletheater und goldene Zeiten sind bei Bühne und Kostümen von Timo Dentler und Okarina Peter sowie der Lichtgestaltung von Olaf Lundt wörtlich zu nehmen. Zum einen dirigiert der Adel das Volk von einem überdimensionierten Kasperletheater, das am Ende der Krönungsszene in einer krachenden Implosion zusammenfällt und als beherrschendes Theaterrequisit auf der Bühne lange gegenwärtig bleibt.
Zum anderen ist das Volk in kreischend goldene Kleider und fast ebenso goldblonde Perücken gekleidet und mit nichts mehr als den neuesten Konsumattributen oder allenfalls den eigenen Kindern beschäftigt. Keinerlei politisches Interesse oder auch wenigstens nur eigenmotivierte Anteilnahme vermögen es zu bewegen, sich in die Position des Machthabers und Volkslenkers hineinzuversetzen oder gar eine Achse zum Schutz der eigenen Interessen mit ihm zu bilden.
Und dann ist da noch die Religion beziehungsweise die Kirche: Pimen ist keinesfalls ein zurückgezogener Mönch, sondern der Anführer einer eigenen Untergrundarmee, der seine Gefolgsleute mit einem Kreuz die Tätowierungen und Zugehörigkeitsmerkmale seiner Truppe in den Körper brennt. Auch diese Gruppe vertritt ihre eigenen, unkontrollierbaren Interessen.
In dieser Einsamkeit zwischen der machtgierigen Adelsschicht, die sich über Schuisky die Kontrolle über die historische Deutung des angeblichen Zarenmordes sichert, und einem gänzlich gleichgültigen Volk kann ein Machthaber nur verzweifeln – eine Situation unendlicher Traurigkeit und Aussichtslosigkeit – für die betroffenen Menschen, und ganz ohne Hoffnung für die Zukunft jedweden aufgeklärten gesellschaftlichen Systems. Boris als Herrscher kann nur das Weite suchen.
Ein einzelner Außenseiter, der Blödsinnige, ist anders. Er bewegt sich am Rande der Gesellschaft, entzieht sich ihren Verführungen. Er ist der einzige, der das Schweigen bricht. Für einen kurzen Augenblick sind der Narr und Boris eng zusammen, bis der Blödsinnige kurz danach ermordet wird. Sein Blut schmiert Boris seinem absehbaren Nachfolger Schuisky wie die Weitergabe der Schuld ins Gesicht – kein nachfolgender Machthaber wird dieser Last entfliehen. Es bleibt nur offen, ob er ein Schuldempfinden und das Gefühl der großen Verlassenheit wie Boris überhaupt entwickeln wird.
Nie hat man die Hintergründe und Dynamiken des Dramas in einer so klaren, auch heute relevanten Parabel erleben können, und das ganz ohne platte zeitgeschichtliche Bezüge, die doch vielfach gegeben wären.
Gespielt wird die Urfassung von 1869 in einer packenden, pausenlosen, nur zweistündigen Version.
Die Oper Nürnberg ist in der Lage, alle Partien aus dem eigenen Ensemble zu besetzen. Allen voran der Boris des Nicolai Karnolsky – mit kernigem Organ, in jeder Situation flexibler Stimmführung und außerordentlicher Verausgabung beim intensiven Spiel. Schuisky wird in ebenso großartiger Stimmgestaltung und verschlagen-darstellerischer Wirkung von David Yim verkörpert. Pimen von Alexey Birkus überzeugt als versehrter Krieger und Untergrundführer mit nachgerade dämonischer Stimmgewalt. Man kann an dieser Stelle unmöglich allen Leistungen des Ensembles gerecht werden. Stellvertretend für das große und überzeugende Ensemble seien bei den Männern der Grigori von Tilmann Unger, Missail von Yongseung Song und Jens Waldig genannt. Bei den Frauen überzeugen Michaela Maria Mayer als Xenia, Ida Aldrian als Fjodor und Solgerd Islav als Wirtin.
Der Chor und Extrachor des Staatstheaters Nürnberg zusammen mit dem Kinderchor des Lehrergesangsvereins Nürnberg unter der Einstudierung von Udo Reinhart, Tarmo Vaask und Klaus Bimüller geben den Chorszenen Gewicht und werden den anspruchsvollen Partien in jeder Nuance gerecht. Chöre und Solisten zeichnen sich durch die in Konwitschny-Inszenierungen übliche rückhaltlose Spielfreude aus, die die Ensembles des Altmeisters unermüdlich und immer wieder aufs Neue auszeichnet.
GMD Marcus Bosch und seine Mannschaft, die Staatsphilharmonie Nürnberg, entwickeln ein vielschichtiges und in den solistischen wie den Chorszenen dramatisch-dynamisches Klangbild, das allen Facetten dieser epischen Chor-Oper wie auch dem vom Regisseur verfolgten Parabelcharakter glänzend entspricht. Besonders eindrucksvoll die großen Szenen, in welchen die Glocken zum Einsatz kommen, die auch in den Orchesterstimmen wiederklingen.
Dem Opernhaus in Nürnberg kann man zu diesem Saisonstart nur gratulieren. Die Produktion ist in Zusammenarbeit mit dem Theater Lübeck und Göteborgs Operan entstanden. Im weiteren Verlauf der Spielzeit wird die in Wien und Lübeck bereits erfolgreich über die Bretter gegangene Version von Konwitschnys Attila zu sehen sein. In der nächsten Spielzeit plant das Team Konwitschny und Bosch die Soldaten von Zimmermann. Nürnberg darf also gespannt bleiben.
Achim Dombrowski