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Alle Fotos © Ludwig Olah

Aktuelle Aufführungen

Der bittersüße Klang der Liebe

LA BOHÈME
(Giacomo Puccini)

Besuch am
21. November 2015
(Premiere)

 

 

Staatstheater Nürnberg

Hoch oben ein enges, graues, leeres Zimmer, in dem ein Mädchen näht; dann schließt sich dieses Fenster wieder, und unten fällt der Blick auf einen grauen, schäbigen Raum mit einem roten Riss in der Wand; hier zelebrieren vier angehende Künstler ein antibürgerliches Dasein. So beginnt im Staatstheater Nürnberg Giacomo Puccinis Oper La Bohème.

Die beiden ungarischen Regisseurinnen Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka, auch verantwortlich für Bühne und Kostüme, lassen hier gleich ein lebendiges Durcheinander mit vielen realistischen Details sich entfalten. Dazu versetzen sie die Handlung dieses beliebten, oft zu Tränen rührenden Werks nicht in die Zeit seiner Entstehung 1895/96, sondern siedeln sie in etwa in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg an. Man malt also schon abstrakt, tippt seine Texte auf der Schreibmaschine, und Schaunard, der Musiker, bringt als Bezahl-Nikolaus seinen hungernden Künstler-Kollegen einen Sack voller ergatterter Köstlichkeiten mit. Dass aber später die vier bei einem ausgelassenen sexistischen Happening in eine enthemmte Stimmung geraten, soll wohl eher den scharfen Kontrast zu den folgenden stillen, bedrückenden Szenen um den Tod von Mimì verstärken.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Ansonsten hat das Regieteam viel Bewegung auf die Bühne gebracht, vor allem bei dem weihnachtlichen Treiben vor dem Café Momus. Da ist ständig etwas Neues zu sehen, und der große Chor samt Kinderchor, geleitet von Tarmo Vaask, wuselt wie wild durcheinander, wobei die hellen Stimmen der Jungen und die im Klang weich ausgewogenen, kräftigen der Erwachsenen zur oft fast grellen Musik von Puccini eine scheinbar unbeschwert heiter überdrehte Welt suggerieren, bis dann wieder im nächsten Akt Nachdenklichkeit einkehrt: Das Künstleratelier  ist mit weißen Tüchern verhängt. Vor der Kneipe, über der sich leichte Damen anbieten, wühlt ein Bettler in der Tonne. Rodolfo hat sich sinnlos betrunken im Schmerz über die todkranke Mimì. Es schneit schwarze Asche auf die arme, und das Lebewohl, das sich die beiden Liebenden angesichts der Aussichtslosigkeit einer gemeinsamen Zukunft sagen, deutet an, dass sich der junge Mann der Wahrheit nicht stellen will, die sterbenskranke Mimì aber mit dem Leben schon abgeschlossen hat. Neben den Symbolfarben Grau, Weiß und Schwarz dieser bildkräftigen Inszenierung ist auch Rot bedeutsam. So öffnet sich der Riss in der Wand, als Mimì und Rodolfo erstmals zusammenfinden. Sie bekommt von ihrem Liebsten die für sie so kostbare rote Mütze geschenkt, und Marcello möchte, allerdings immer wieder vergeblich, das Rote Meer in Rot malen. Liebe und Tod, Erlösung und Untergang sind in dieser Farbe vereint.

Foto © Ludwig Olah

Solche Gedanken aber treten angesichts der packenden musikalischen Umsetzung eher in den Hintergrund. Denn die Staatsphilharmonie Nürnberg spielt unter Gábor Káli vor allem in den lyrisch bestimmten Teilen berührend zart, mit blühendem Schmelz, allerdings manchmal etwas dick aufgetragen.

Eindrucksvoll aber gelingt der Schluss mit den Erinnerungen an die schönen Momente der Liebenden, vorgelesen von Rodolfo aus seinen Aufzeichnungen, musikalisch unterstrichen durch die leitmotivischen Assoziationen. Herausragend sind die sängerischen Leistungen. Dabei glänzen zwei Neue aus der Türkei im Nürnberger Ensemble besonders. Den Rodolfo verkörpert sehr glaubhaft Ilker Arcayürek mit einem hell kräftig strahlenden Tenor und gestaltet ihn als wenig lebenserfahrenen, gutwilligen jungen Mann, der von den tragischen Ereignissen schlicht überfordert ist; deshalb muss ihn auch Mimì eher trösten als dass er ihr im Sterben eine Stütze ist. Auch Levent Bakirci als sein Freund, der Maler Marcello, kann in seiner lebendigen Darstellung und mit seinem starken, sicheren Bariton die Gefühlsverwirrungen, in die ihn seine Musetta stürzt, überzeugend vermitteln. Ebenso laufen die übrigen Mitglieder dieser Künstler-WG, Daniel Dropulja, ein angenehmer Bariton, als schlaksiger Musiker Schaunard und Nikolai Karnolsky, ein profunder, großer Bass, als Philosoph Colline zu sängerischer Höchstform auf. Die kleineren Rollen mit ihren verschiedenen Charakteren erhalten ebenfalls überzeugendes Profil: Suren Manukyan ist mit seinem kräftigen Bass ein spießiger, spaßbefreiter Hauswart Benoît, Richard Kindley muss einen sich wie ein Hund erniedrigenden reichen alten Mann Alcindoro markieren, Klaus Brummer ist ein närrischer Tor und Kinderschreck Parpignol, und Moon Shik Oh als Sergeant sowie Dariusz Siedlik als Zöllner vervollständigen das vielschichtige Personal.

Ein Höhepunkt der ganzen Inszenierung, nicht nur vom Äußeren her, ist Michaela Maria Mayer als Musetta; wie sie in ihrem berühmten Walzer mit ihrem klaren Sopran brilliert und wie sie den Spagat schafft zwischen der leichtlebigen, kalt berechnenden Lebedame, der erotisch aufreizenden Barfrau und einem mitfühlenden Wesen, als es Mimì schlecht geht, ist Extraklasse. Hrachuhí Bassénz als diese tapfere kleine Grisette Mimì erfüllt ihre Rolle mit Wärme, ohne bei ihrem Leid ins Sentimentale abzugleiten, und stimmlich passt dazu ihr runder, schmiegsamer, höhensicherer Sopran hervorragend. So rührt ihr Tod auf dem Boden des Ateliers eigentlich nicht zu Tränen; die vorsorglich ausgeteilten Taschentücher bleiben eingepackt. Aber trotzdem bedeutet dieses Ende einen abrupten Schock. Die Künstler sind fassungslos.

Das Premierenpublikum im voll besetzten Opernhaus aber fasst sich schnell und feiert die sängerischen Höchstleistungen, Orchester und Chor sowie das Regieteam mit langem, begeisterten Beifall.

Renate Freyeisen