Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Wilfried Hösl

Aktuelle Aufführungen

Hunger-Pop-Art

HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)

Besuch am
14. Dezember 2015
(Premiere am 24. März 2015)

 

Bayerische Staatsoper, München

Diese Inszenierung schied 2013auf mehrerlei Weise die Geister. Generationen der Münchner wollten die über Dekaden liebgewonnene klassische Inszenierung samt Flughexe, Rauschgoldengeln und Märchenwald zurück. Diese wurde von Großeltern an die Enkel weitererzählt, man ging gemeinsam zu Weihnachten und genoss Humperdincks Romantik. Die Neufassung konnte bei diesem Klientel nur verlieren. Außerdem machte der internationale Inszenierungsweiterverkauf Furore, nachdem Jones‘ erfolgreiche Produktion in den USA und Frankreich bereits läuft und nun ohne Beteiligung des Regisseurs nach München weiterverkauft wurde. Die Neueinstudierung leitete sein langjähriger Mitarbeiter Benjamin Davis. Im zweiten Jahr entstehen unter den Kleinen und Großen bereits die ersten Fans dieser hochwertigen, da sehr intelligenten Märchenoper, die typisch nach Jones‘ zauberhaft-verträumtem Stil, den er am Haus persönlich bei Hoffmanns Erzählungen ebenso wie bei Pelléas et Mélisande deutlich bewies.

Die Produktion besticht und gelingt. In größer werdenden Fluchtpunktzimmern weitet sich der Horizont der verlorenen Kinder. Es beginnt in tristem Weiß mit präzisen, kleinen Kinderspielereien, Tanzmomenten und sanften Modernismen. Mutter Besenbinder nimmt in der Tristesse Tabletten, der trunksüchtige Mann langt zu. Immer aber librettokonform, im Dienste der Musik und geschwind und kindgerecht ausgelegt. Der Wald als Speisesaal mit Blatttapete von John Macfarlane ist von düsteren Ents bevölkert, das Sandmännchen als geschickte Marionette besticht und dann bereichert der Abendsegen als spannende Kinderphantasie. Hungrige Kleine träumen wahrlich nicht von Engeln. Jones treibt hier sein Hunger-Pop-Art-Konzept, das als umgreifenden Bogen plakative Prospekte bei den Umbauten nutzt, auf die Spitze: Groteske Köche unter der Leitung des livrierten Fisches, den Christian Prager wunderbar steif verkörpert, decken die ausladende Tafel, die Kinder werden gekleidet und erleben im Schlaf die Erlösung ihres Sehnens: Ein prall gedeckter Tisch nur für sie allein.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Nach der Pause dann großer Slapstick. Die moderne Hexenküche ist gut gefüllt und an vielen Stellen darf Tortenschlacht, Teiggepantsche und Kindergeburtstag gefeiert werden. Die Lebkuchenkinder stehen plakativ parat, auch im Kühlschrank erblickt man ganz kurz Kinderhaxerl. All das entschärft die köstliche Rosina im Zuckerrausch, die hektisch durch ihre Küche rennt. Am Ende verwandeln sich die Kindelein in viele echte Chorsänger, und als Schlussgag kommt die Hexe durchgebacken aus dem Ofen, um beim Segen geschmaust zu werden. Die anwesenden Kinder freuen sich daran köstlich. So mancher ältere Gast schüttelt den Kopf.

Nicht allerdings über die Sänger. Der Rolle fast schon entwachsen gibt Hanna-Elisabeth Müller nach ihrem Achtungserfolg in Arabella eine schönstimmige Gretel mit hübschen Koloraturen und gerade im Liedhaften überzeugend. Im Duett harmonierend, spielerisch köstlich bockig und mit sattem Klang steht ihr kein geringer Hänsel mit der erfahrenen Angela Brower gegenüber. Im Klang teils chargierend, im Spiel schwerlich übertroffen, genießt und feiert Kevin Connors erstmals seine Knusperhexe. Er erneuert seine erinnerliche Leistung aus L'Enfant et les Sortilèges im Märchenfach, nutzt seine Körpergröße und bleibt schaurig-komisch. Große Operette mit viel Lautstärke gibt Bariton Sebastian Holecek als Besenbinder, weniger der Inszenierung als seiner Stimme verpflichtet. Nach der Norn gibt Helena Zubanovich nun die Mutter mit weniger Vibrato, doch erneut keiner meisterlichen Leistung fähig. Hübsch und präzise auch im Spiel das Sandmännchen von Leela Subramaniam; eher darstellerisch überzeugend Deniz Uzun als Taumännchen.

Das Finale gehört dem alterstechnisch wie zahlenmäßig breit und kompetent ausgelegten Kinderchor unter Stellario Fagone. Wohlklang und Weihnachtsstimmung ist von den gut angeleiteten Kindern zu hören, denen auch Tomás Hanus am Pult die Bühne bereitet.

Man merkt dem motivierten Staatsopernorchester die Götterdämmerung des vorherigen Tages an. Im Klangmalen eingespielt, froh ob des vergleichbar kurzen Abends gehen sie in die Vollen und Humperdincks nachhaltiger Wagnerismus aus Zeiten der Nibelungenkanzlei klingt deutlich durch. Hanus konterkariert das mit geschwinden sinfonischen Zwischenspielen und wunderschönem Adagio in den Romantismen.

Das ist Weihnachtsstimmung. Entstaubt, hochwertig und dennoch für Jung und Alt gleichermaßen gewinnbringend. Darum sahnt auch die böse Travestie-Hexe beim Applaus ebenso wie das Kinderpaar und Hanus ab. München gewöhnt sich.

Andreas M. Bräu