Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Winfried Hösl

Aktuelle Aufführungen

Viel Haut nah am Klamauk

DER FEURIGE ENGEL
(Sergej Prokofjew)

Besuch am
3. Dezember 2015
(Premiere am 29. November 2015)

 

 

Bayerische Staatsoper

Es war keine einfache Geburt. Diese Oper von Sergej Prokofjew hat es in sich und entstand in seinen Exiljahren von Paris und Ettal. Er selbst hat nie eine Aufführung dieses Werkes erlebt, da sein Schaffen in Russland, wohin er 1936 freiwillig zurückkehrte, als verfemt galt. Die konzertante Uraufführung fand 1954 in Paris statt. Ein Jahr nach dem Tod des Komponisten, der sinnigerweise am gleichen Tag wie sein Peiniger Stalin verstarb. Die szenische Uraufführung fand 1955 in Venedig statt. Die Opernwerke Prokofjews finden nur schwer Zugang zu den Opernhäusern, während seine symphonischen Werke große Beliebtheit in den Konzertsälen erfahren. Umso erfreulicher ist, dass dieses Werk nun auch in München seine Erstaufführung erlebt.

Die Handlung basiert auf der mittelalterlichen Faust-Mephisto-Geschichte, die der Russe Waleri Brjussow in einem Roman 1910 aufgegriffen hat. Sergej Prokofjew hat daraus selbst das Libretto verfasst. In fünf Akten beziehungsweise sieben Bildern erzählt er die Geschichte von Renata. Dieser erschien in der Kindheit der Engel Madiel, ihr feuriger Engel, der ihr engster Freund wurde. Als sie begann, ihn auch körperlich zu begehren, verließ er sie, und nun versucht sie, ihn wiederzufinden. Im Grafen Heinrich glaubt sie, ihn gefunden zu haben, aber nach einem Jahr wird sie von ihm verlassen. Die Oper beginnt mit ihrer Begegnung mit dem Ritter Ruprecht in dessen Hotelzimmer, der der außergewöhnlichen Frau und ihrer Erotik verfällt. Gemeinsam versuchen sie Graf Heinrich beziehungsweise den feurigen Engel zu finden, auch mit schwarzer Magie. Ein gefährliches erotisches Spiel mit Irrungen und Wirrungen beginnt, gespickt mit den traumhaften Erscheinungen von Doktor Agrippina, Graf Heinrich, Mephisto und Faust. Zuletzt flüchtet Renata ins Kloster, exorzistische Rituale scheitern, im Gegenteil – das klösterliche Leben wird zu schändlichen, erotischen Begierden gereizt, sodass der Inquisitor die Verbrennung von Renata anordnet.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Das ist ein Stoff, der die Fantasie des Regisseurs Barrie Kosky und der Bühnenbildnerin Rebecca Ringst zu großflächigen, bunt gefächerten Bildern mit vielen Beteiligten und viel Bewegung angeregt hat. Allen Details auf der Bühne zu folgen, ist schwer und lenkt ab. In einem edlen, barock mit Stuck anmutendem, grauem Hotelzimmer, das durch Verschieben der Rückwand verkleinert werden kann, nimmt der Lauf der Dinge Gestalt an. Durch Lichteffekte werden traumatische oder ekstatische Szenen angeheizt. Tätowierte Balletttänzer, mal in langen Damenroben, mal in kecken Tangas und Strapsen, begleiten die verschiedenen Erscheinungen. Orgiastische Feiern werden gesteigert mit erotischen Bewegungen, baumelnden Plastikpenissen, abstrusen Haarkreationen und Kostümen, sowie einer gekochten Wurst als abgeschnittenem Penis, der wieder angenäht wird. All diese Szenen neigen dazu, die Inszenierung hin zum Klamauk zu ziehen. Die musikalisch ausufernde Teufelsaustreibung wirkt mit hüpfenden Nonnen mit Dornenkronen belanglos bis lächerlich und passt nicht zur spannungsgeladenen Musik. Das brave Schlussbild mit Renata und Ruprecht als Händchen haltendes Paar erscheint szenisch nicht als die richtige Lösung. Die findet Vladimir Jurowski im Orchestergraben.

Foto © Winfried Hösl

Der junge Dirigent zaubert einen kraftvollen, expressiven Klangteppich, gewoben aus mystisch akzentuierten stakkatoartigen Forti und rhythmisch getriebenen Orchesterzwischenspielen. Die Orchestrierung umfasst ein großes Orchester, das meist in Instrumentengruppen agiert und sich in Bausteinen zeitgenössisch modern zusammensetzt. Das Orchester ist bestens vorbereitet und lässt sich mit viel Engagement auf das Werk ein. Die Spätromantik wirkt in wenigen, aber wirkungsvollen melancholischen Passagen.

Gesanglich ist diese Neuinszenierung bestens besetzt. Evgeny Nikitin ist ein männlicher, kraftstrotzender Ruprecht, der überzeugend der geheimnisvollen Renata von Svetlana Sozdateleva verfällt. Spürbar vorteilhaft ist die russische Besetzung für dieses schwierige Werk in Ausdruck als auch Klangfärbung. Das Leid, der Schmerz und die exzessive Leidenschaft kommen bei den beiden von innen und stimmlich bestens abgestimmt. Igor Tsarkov, in Strapsen und neckischem Slip, gelingt es mit seiner robusten, sonoren Stimme, einen doch erhabenen Faust zu gestalten, während Kevin Conners von der Regie eine schwierige Gestaltung als Mephistopheles auferlegt bekommt. Er erinnert mehr an einen verschrobenen, dickbauchigen Eunuchen als einen verruchten Bösewicht. Vladimir Galouzine zeigt stimmlich weniger Ausdruck und Überzeugung als sein aufwändiges Kostüm mit langem Kleid und fülligem Umhang. Okka von der Damerau zeigt als Äbtissin, die in religiöse Ekstase verfällt, einmal mehr ihre breite Einsatzfähigkeit.

Das Publikum, angereichert mit vielen Jugendlichen, nimmt dieses wilde Schauspiel als unterhaltsames, ereignisreiches Spektakel begeistert auf und zeigt sich sehr dankbar gegenüber allen Beteiligten. Der autobiographische innere Kampf des Komponisten zwischen Ratio und christlichem Glauben, Enthusiasmus und Leidenschaft, Realität und Irrealität kommt an diesem Abend und der Inszenierung dieses rätselhaften Werkes nicht heraus.

Helmut Pitsch