Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Marie-Laure Briane

Aktuelle Aufführungen

Cineastisch bebildert

CHICAGO 1930
(Karl Alfred Schreiner)

Besuch am
21. Juli 2016
(Uraufführung)

 

Staatstheater am Gärtnerplatz,
Cuvilléstheater, München

Eine Momentaufnahme steht am Beginn. Es wird geschossen. Männer in dunklen Mänteln und mit Hut geistern durch schummrig beleuchtete Straßenzüge. Eine Frau in Rot scheucht ihren Sohn – Luigi – in Sicherheit, um dann selbst im Kugelhagel umzukommen. Nach diesem Prolog treffen wir den jungen ungestümen Luigi wieder und begleiten ihn auf einem Stück seines tragisch endenden Lebens im Gangster- und Mafiamilieu Chicagos in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Karl Alfred Schreiner hat diese Lebens- und Liebesgeschichte einfühlsam und ausdrucksstark konzipiert und choreografiert. Dabei hat er sich auf Originaltänze der Zeit genauso berufen wie modernes Tanztheater einbezogen. In gleitender Harmonie verschlingen sich die tänzerisch sehr unterschiedlich gestalteten Einzelbegebenheiten. Schwungvolle Tanzrevue mit Bunnies weichen brutalen, kraftstrotzenden Kampf- oder Folterszenen. Subtil gelingt dem Choreografen, die Gewaltszenen ergreifend packend zu gestalten. Die Brutalität ist spürbar. Die Qual der Opfer geht unter die Haut. Die Bewegungen der Tänzer und Tänzerinnen zeigen akrobatische Züge, die Kampfszenen sind gekonnte Pas de Deux, deren Eleganz in der Echtheit der Abfolge liegt.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Viele Spielfilme haben in dieser Zeit und in diesem Umfeld gespielt und der Zuschauer findet diese hier wieder, aber diese Szenen sind realistisch live und echt. Wesentlich für den Erfolg dieses Abends ist die Gestaltung der Bühne und insbesondere die Lichtregie. Rifail Ajdarpasic zaubert mit scheinbar einfachen Mitteln das Chicago der 1930-er Jahre auf die Bühne des Cuvilléstheaters. Ein paar typische Backsteinhäuserfronten rahmen den zentralen offenen Bühnenraum ein. In genialer Ausleuchtung – für die Lichtregie zeichnet Jakob Bogensperger – werden lebensnahe Stimmungen erzeugt. Da dringt gleißendes Sonnenlicht durch eine einfach gestaltete Jalousie in das Büro des Paten, oder verblüffend echt entsteht das Innere einer Kirche mit gotischen Glasfenstern.

Foto © Marie-Laure Briane

Betrachten wir vor der Pause das Verlieben von Luigi und Maria sowie deren erste Liebesnacht und darauf den Auftragsmord Luigis an Marias Vater, erleben wir nach der Pause die innere Verzweiflung und traumatische Marter Luigis an Hand seiner Erinnerungen und seine Auseinandersetzung mit dem Tod. Giovanni Insaudo und Ariella Casu, beide Mitglieder des Ballettensembles des Gärtnerplatztheaters München verkörpern die Hauptpersonen des Abends und müssen in dieser Choreografie ihre vielseitigen Talente, auch schauspielerisch, darbringen. Es gelingt Ihnen mit ihren Bewegungen, Mimik und teilweise Sprache, ihre Geschichte und Gefühle lebensecht zu vermitteln. Begleitet werden sie von ihren Kollegen, die allesamt ihr Können von schwungvollem, turnerischem Boogie Woogie, Charleston oder Lindy Hop genauso unter Beweis stellen wie Rap, Streetdance oder den gefühlsbetonten Ausdruckstanz.

Die Musik zu dieser ergreifenden Lebensgeschichte stammt aus einer Zusammenstellung von Originalstücken großer Vertreter des Jazz oder Jive wie Duke Ellington und der Klassik wie Béla Bartók oder Heitor Villa-Lobos. Sie gibt treffend den authentischen Klang und das musikalische Stimmungsbild der Zeit wieder. Andreas Kowalewitz hat an der Zusammenstellung der Musiknummern intensiv mitgearbeitet und leitet die Uraufführung mit den mitreißend swingenden Musikern des Orchesters des Staatstheaters am Gärtnerplatz. Mit viel Einfühlungsvermögen führt er und begleitet auch am Klavier die Tänzer in ihren nahezu cineastischen Auftritten.

Das Publikum zeigt sich sichtlich beeindruckt und begeistert über diese soziale, historische Milieustudie, die auch konkret auf die aktuelle Frage eingeht, was unsere Entwicklung beeinflusst und welchen Einfluss äußere Umstände besonders auf junge Menschen haben.

Helmut Pitsch