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Aktuelle Aufführungen

Liebe bis zum Wahnsinn

LUCIA DI LAMMERMOOR
(Gaetano Donizetti)

Besuch am
6. Mai 2016
(Premiere)

 

Südthüringisches Staatstheater
Meiningen

Einer der größten Triumphe, die das Teatro San Carlo in Neapel je feierte, war die Premiere von Gaetano Donizettis romantischer Oper Lucia di Lammermoor nach dem damals viel gelesenen Roman von Sir Walter Scott am 26. 9. 1835, und sie wurde auch zum erfolgreichsten Werk des Komponisten. Die Gründe dafür sind einmal beim Stoff zu suchen, bei den Gefühlsaufwallungen und der emotionalen Tiefe, der Schauerromantik und der damit zusammenhängenden Verknüpfung von Liebe und Tod, andererseits musikalisch beim Schmelz der Melodien, der bravourösen Verbindung von Eingängigem und hoch Artistischem, vor allem in der Wahnsinnsarie, einem Paradestück für alle Primadonnen, sowie auch bei den dramatisch wirksamen Effekten des Librettos von Salvadore Cammarano.

Dass im Meininger Theater auch heute noch dadurch Beifallsstürme hervorgerufen werden können, liegt am behutsamen, alles Provozierende vermeidenden Umgang mit der Handlung und an der grandiosen Besetzung der Hauptrolle. Regisseur Ansgar Haag lässt alles in den 1920-er bis 30-er Jahren in einem Land mit faschistischen Zügen spielen. Dazu passen die Kostüme von Renate Schmitzer, schwarze oder dunkle Uniformen für die Männer, für die Damen der Hochzeitsgesellschaft glitzernde, fließende Roben in Grautönen. Nur Lucia erscheint in unschuldigem Weiß. Schauplatz ist die Eingangshalle eines maroden Adelssitzes, düster, halb zerfallen, mit einer gekachelten Folterzelle unten und dem Ausblick hinaus auf einen Friedhof. Dieses bedeutungsvolle Bühnenbild von Christian Rinke ändert sich kaum. Es sind kriegerische Umbruchzeiten, der Vertreter der Ashtons, Lord Enrico, ist politisch wie finanziell am Ende, und so gilt es, gegen den Untergang anzukämpfen, vor allem gegen seinen Intimfeind Edgardo, den Letzten derer von Ravenswood. Leider aber hat sich Lucia, die Schwester Enricos, in Edgardo verliebt, und beide haben sich ewige Treue geschworen. Als Ausweg aus dem familiären Desaster erscheint Enrico nur eine vorteilhafte Verheiratung seiner Schwester. Also zwingt er sie, unterstützt von den Verleumdungen des Intriganten Normanno und durch die moralischen Vorhaltungen ihre Erziehers Raimondo, den reichen Lord Bucklow zu ehelichen.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Doch kommendes Unheil ist schon greifbar: Immer wieder erscheint eine geisterhafte Frau, ein Ebenbild Lucias, und lässt an den Wänden der Folterkammer Blut herabströmen, als angebliche Halluzination wohl ein wenig zu real verkörpert. Auf das unheilvolle Geschehen verweisen auch andere bedeutungsvolle Einzelheiten; so tragen die weiblichen Gäste der Hochzeitsgesellschaft Kerzen mit sich wie bei einer Beerdigung, und nach der Ermordung des ihr aufgezwungenen Gemahls durch Lucia stellen sie diese auf der Treppe ab wie auf einem Altar. Und als Edgardo sich am Schluss umbringt, schreitet die geisterhafte Gestalt der Lucia vorbei und bläst das Kerzenlicht aus.

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Ein überzeugender Kunstgriff gelingt auch musikalisch. Nicht nur, dass beim Liebesgeständnis Lucias die begleitende Harfe auf der Bühne postiert ist; vor allem die Verwendung der Glasharmonika, gespielt von Philipp Alexander Maguerre, als solistisches Pendant der umfangreichen Wahnsinnsarie bewirkt eine Verstärkung der Aussage. Donizetti hatte sich ausdrücklich dieses damals schon altmodische Instrument gewünscht, sah sich aber durch die Umstände gezwungen, auf die Flöte als Begleitinstrument auszuweichen. So geschieht es meist noch heute. Doch die Glasharmonika mit ihrem schwebenden, nahezu körperlosen Klang hat etwas Gespenstisches, beschwört eine Stimmung herauf, die zwischen himmlisch und unheimlich schwankt; durch diese Sphärenmusik erhält die Wahnsinnsarie der Lucia eine ganz andere, dem Wirklichen entrückte Aussage, analog der Entgrenzung durch den Irrsinn einer tragisch Liebenden, die die Wirklichkeit nicht mehr wahrnimmt. Lucia scheint danach glücklich in ihrem Wahn, Edgardo nahe zu sein, aber befleckt vom Blut ihrer Tat am ahnungslosen Bräutigam. Es kommt auch nicht mehr zum Duell zwischen Edgardo und Enrico; dieser gibt seinem „Berater“ Normanno die ganze Schuld, lässt ihn umbringen; alle sind wie erstarrt, auch der Erzieher Raimondo, eine Art greiser Pfarrer, und Edgardo setzt vor aller Augen seinem Leben ein Ende.

Trotz all dieser schaurigen Ereignisse klingt die Musik Donizettis meist erfüllt von süßer Melodik, innig und betörend. Philippe Bach am Pult der Meininger Hofkapelle betont diese Seite eher zurückhaltend; lediglich das Cello darf mit satter Kantilene aufwarten. Zwar scheint der Beginn der Oper nach einer kurzen, dramatischen Einleitung noch etwas turbulent bei Solisten und Chor. Doch der findet sich unter seinem neuen Leiter Martin Wettges schnell und gefällt gerade bei den Männerstimmen durch abgestufte Klangfülle, agiert aber oft ein wenig statisch. Dagegen überraschen die Gesangssolisten mit meist überzeugendem Auftreten. Siyabonga Maqungo ist ein unangenehm sich einmischender Intrigant Normanno und unterstützt das mit seinem hellen, beweglichen Tenor. Den ältlichen Raimondo singt Mikko Järviluoto mit fülligem, etwas dumpfem Bass, während Arturo, der freundliche, aber ahnungslose Bräutigam der Lucia, von Daniel Szeili mit großem, nicht ganz höhensicherem Tenor gezeichnet wird. Die sympathisch mitleidende Dienerin Alisa ist bei Carolina Krogius und ihrem wohlig runden Mezzosopran bestens aufgehoben. Dass Edgardo so bedingungslos von Lucia geliebt wird, ist nur vom Opernlibretto her zu begreifen; Xu Chang wirkt in dieser Rolle nicht allzu verführerisch, lässt aber seinen kräftig hellen Tenor bis in die höchsten Höhen imponierend laut erschallen. Durch Dae-Hee Shin wird der kalte, berechnende Charakter von Enrico sehr glaubhaft dargestellt, und sein kraftvoller, nie angestrengter Bariton unterstützt seine Kompromisslosigkeit mit schneidender Diktion. Ein Ereignis aber ist Elif Aytekin als Lucia: Sie wirkt zart, freundlich, selbstbewusst, angetrieben nur von ihrer leidenschaftlichen Liebe, gibt ihren Emotionen viel Wärme, steigert sich aber immer mehr hinein in die Welt ihrer Gefühle. Mit ihrem klaren, fein nuancierten Sopran gestaltet sie eine überaus anrührende Lucia, kann mit ihrer Stimme mühelos die höchsten, nie grell erscheinenden Höhen rein und hellglänzend erklimmen, dringt immer über das Orchester und die anderen Sänger und begeistert in der langen Wahnsinnsarie mit ihrer Ausdrucksbreite, den lockeren, stets sicher sitzenden Verzierungen, die nie wie überflüssiges Dekor wirken, und steht das alles noch bravourös ohne irgendwelche Ermüdungserscheinungen durch.

Das Publikum im voll besetzten Haus rastet bei solchen Leistungen vor Begeisterung schier aus und feiert am Ende mit lautem Jubel, stehenden Ovationen und rhythmischem Klatschen lange alle Mitwirkenden, vor allem natürlich die wunderbare Titelheldin.              

Renate Freyeisen