Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

Some alt text
Foto © Tom Schulze

Aktuelle Aufführungen

Richard ist Leipziger

DER RING DES NIBELUNGEN
(Richard Wagner)

Besuch vom
5. bis 8. Mai 2016
(Premiere)

 

 

Oper Leipzig

Mit diesem Slogan wirbt der Richard-Wagner-Verband Leipzig für die Pflege des Wagnerwerkes in seiner Geburtsstadt Leipzig. Und dieser Slogan passt auch hervorragend zu dem Mammutprojekt, das die Oper Leipzig an vier Abenden hintereinander stemmen will. Nur fünf Tage nach der umjubelten Premiere der Götterdämmerung und fünf Jahre nach Beginn der konzeptionellen Arbeit gibt es die erste zyklische Gesamtaufführung des Ring des Nibelungen seit vierzig Jahren an der Oper Leipzig. Die Premiere des Rheingold liegt genau drei Jahre zurück. Sie war gleichzeitig Auftakt zu den Feierlichkeiten rund um Wagners 200. Geburtstag, der in seiner Geburtsstadt Leipzig intensiv begangen wurde. Ende 2013 gab es mit der Premiere von der Walküre die lang ersehnte Fortsetzung der Ringtetralogie mit großem Erfolg. Bis zur Premiere des Siegfried musste sich die Leipziger Fan-Gemeinde fast anderthalb Jahre gedulden, vielleicht auch der Grund, warum diese Aufführung im Vergleich zu den ersten beiden bei der Inszenierung einen gefühlten Einbruch hatte, wo der rote Faden scheinbar abhandengekommen war. Den finalen Höhepunkt der Tetralogie, ein Jahr nach der Siegfried-Premiere, erlebt die Oper Leipzig mit der Premiere Götterdämmerung auch die Krönung und Vollendung des Ringzyklus, der sich nun nach drei Jahren geschlossen hat.

Den letzten Ring in Leipzig zuvor gab es 1976 in der legendären Inszenierung von Joachim Herz, der als erster Regisseur versuchte, den Ring in Bezug zu seiner Entstehungszeit zu setzen und damit einen Gegenentwurf zum Jahrhundertring von Patrice Chéreau in Bayreuth präsentierte. Nun also vierzig Jahre nach Herz, einhundertundvierzig Jahre nach der Uraufführung des Werkes in Bayreuth und am Vorabend des 203. Geburtstages des Leipziger Komponisten ist es soweit. Die Spannung ist immens, die Erwartungshaltung enorm hoch, und das fachkundige Publikum ist international. Viele Sprachen sind zu vernehmen, vor allem US-Amerikaner zieht dieser Ring magisch an, der seit langer Zeit ausverkauft ist. Über die Hälfte der insgesamt 5000 verkauften Tickets sind ins Ausland gegangen. Zudem ist die Oper Leipzig deutschlandweit das einzige Haus, das in diesem Jahr den Ring an vier Abenden hintereinander ohne Pause präsentiert. Das ist nur durch eine sehr ausgewogene personelle Besetzung und ein ausgeklügeltes logistisches und technisches Konzept möglich.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Für die insgesamt 49 Partien, die es an den vier Abenden zu besetzen sind – hier sind die Partien wie Wotan, Brünnhilde oder Siegfried jeweils pro Werk einzeln gezählt – stehen der Oper 28 Sängerinnen und Sänger zu Verfügung. Und obwohl einige natürlich mehrere Partien zu bestreiten haben, sind die großen Rollen jeweils einzeln besetzt. Drei Heldentenöre für Siegmund und die beiden Siegfriede, zwei Wotane und ein Wanderer, und es gibt drei Brünnhilden mit der Besonderheit, dass Christiane Libor, die Götterdämmerungs-Brünnhilde, auch gleichzeitig die Sieglinde verkörpert. Und Thomas Mohr, Siegfried in der Götterdämmerung, übernimmt auch die Partie des Loge im Rheingold. Insgesamt ist die Besetzung des gesamten Ringes aber so ausgewogen, dass die Aufführungen an vier Abenden hintereinander für die Sänger, und damit auch für das Publikum, zumutbar sind. Die größte Herausforderung haben sicher das Gewandhausorchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Ulf Schirmer und die Bühnenarbeiter hinter den Kulissen zu bewältigen.

Foto © Tom Schulze

Eines kann man aber vorweg schon sagen. Dieses Ring-Erlebnis an vier Abenden ist von einer Intensität und einer Spannung, die man im Vorfeld nicht unbedingt erwarten konnte. Schirmer sprach im Vorfeld von einem Lebensgefühl; und er und sein Team haben an diesen vier Abenden Wagner und den Ring gelebt, und auch das Publikum konnte teilhaben an diesem Lebensgefühl, sowohl während der Aufführungen als auch in den Pausen, in denen intensiv diskutiert wurde, oder bei den zahlreichen Begleitveranstaltungen, in denen über Stimmphysiologie und Hochleistung im Wagner-Gesang fachkundig diskutiert wurde. Und plötzlich sieht man die Inszenierung von Rosamund Gilmore mit anderen Augen, sie wird dichter, intensiver und verständlicher. Die mythischen Wesen, Wagners stumme Stimmen, bekommen noch mehr Bedeutung, sie sind wie seine Leitmotive elementare Bestandteile und werden fast zu Partnern auf Augenhöhe mit den singenden Protagonisten.

Die einst gefühlte Verflachung im Siegfried ist nicht mehr vorhanden, alles läuft auf das große Finale in der Götterdämmerung hinaus. Es ist Gilmores großes Verdienst, einen wunderbaren Ring erzählt zu haben, ohne in bedeutungsvolle Interpretationsversuche abzudriften. Davon gab es in den letzten Jahren, vor allem in Bayreuth, viel zu viel. Ihr gelingt der Spannungsbogen von der Tiefe des Rheins bis zum finalen Ende in der Götterdämmerung, ohne dass es große Brüche gibt. Als Zyklus ist der Ring verdichtet, klar und verständlich. Und die tanzenden mythischen Wesen, Gilmores stumme Stimmen, sind nicht nur choreografisch schön angeordnet, sondern sie erzählen den Ring mit und geben ihm einen ganz neuen und verständlichen künstlerischen Aspekt.

Die Bühnenbilder und Kostüme von Carl Friedrich Oberle und Nicola Reichert harmonisieren an den vier Abenden noch viel deutlicher, als das bei der Betrachtung eines einzelnen Werkes der Fall ist. Und jetzt erkennt man auch, warum der Ring des Nibelungen ein Gesamtkunstwerk ist, und nicht einfach nur die Summation von vier Opern. Die grandiose Lichtregie von Michael Röger verstärkt die visuelle Illusion und emotionale Anteilnahme an diesem Werk, durchaus synergetisch mit Personenregie und Musik. Mit dieser Art von Erzählung ist Rosamund Gilmore und ihrem Team ein größerer Wurf gelungen, als das am Anfang bei der Betrachtung der Einzelwerke erkennbar war. Eine großartige Leistung, die sicher von langer Nachhaltigkeit sein wird. Ein Ring-Projekt ist natürlich auch eine große Herausforderung an den Klangkörper des Hauses, seien es die Sängerinnen und Sänger, sei es das Orchester mit ihrem Dirigenten, die an vier Abenden hintereinander körperliche und mentale Höchstleistung zu vollbringen haben. Und dann gibt es diese magischen Momente, in denen ein Protagonist über sich hinauswächst und eine vielleicht nicht für möglich gehaltene Leistung abruft, die dann zu den ganz großen emotionalen Augenblicken führt, die es vielleicht nur bei Wagner gibt.

Christiane Libor gehört zu den Sängerinnen des Ring-Ensembles, der genau das gelungen ist. Nach ihrem umjubelten Debüt als Götterdämmerungs-Brünnhilde schafft sie die mentale und stimmliche Umstellung zur Sieglinde, die sie teils lyrisch, teils hochdramatisch angeht. Dieser Wechsel der Klangfarben, des dramatischen Ausdrucks in der Stimme und ihre strahlenden Höhen lassen ihre Sieglinde warm und fraulich erklingen. Ihre Brünnhilde in der Götterdämmerung nur zwei Tage später wird dann zu diesem magischen Moment. Keine Spur mehr von Nervosität wie noch bei der Premiere, sie verlangt ihrer Stimme alles ab, schont sich zu keinem Moment. Hochdramatisch die Schwurszene im zweiten Aufzug, emotional berückend ihre Schlussszene im dritten Aufzug, wenn sie Abschied vom toten Siegfried nimmt. Eine sicher ungewöhnliche Rollenkonstellation, aber für diesen Ring so etwas wie die Idealbesetzung.

Das gleiche gilt für Thomas Mohr, Sänger des Götterdämmerungs-Siegfried und des Loge im Rheingold. Mohr, der aus dem Baritonfach kommt und zunächst eine Karriere als Lied- und Oratoriensänger angestrebt hatte, selbst auch als Gesangslehrer wirkt, kann seine Stimme so variieren, dass sie einerseits dem Charaktertenor Loge einen heldenhaften Anstrich verleiht, dem Heldentenor Siegfried aber genauso liedhafte, lyrische Züge gibt. Mohr verfügt einerseits über den metallischen Stahl in der Stimme, der für die hochdramatischen Passagen unabdingbar ist, aber auch über das warme und dunkle Timbre, mit dem er fast schon zärtlich von Brünnhilde Abschied nimmt. Seine Deklamation ist so vorbildlich, dass es zum Textverständnis keiner Übertitel bedarf. Im Zusammenwirken mit Christiane Libor mischen sich zwei exzellente Stimmen harmonisch zu einem einzigen Klang.

Eva Johansson als Brünnhilde in der Walküre und Elisabet Strid als Brünnhilde im Siegfried sind ganz unterschiedlich in ihrer Interpretation der Rolle und stimmlich, auch im Vergleich zu Christiane Libor, ganz anders gelagert. Johansson ist die wilde, jugendlich-dramatische Brünnhilde, voller Leidenschaft mit dramatischen Ausbrüchen, leuchtenden Höhen und lyrisch-zärtlichen Momenten wie in der Todesverkündigung oder beim Abschied von Wotan. Strid legt die erwachende Brünnhilde im Siegfried mit Belcanto-Tönen an, lyrisch zärtlich, jubelnd, dann wieder ängstlich zurückhaltend, um dann im Finale zu leuchtender Liebe und lachender Tod mit strahlenden Höhen zu schließen.

Andreas Schager ist der vor Kraft strotzende, fast überschäumende Siegmund, der mit einer scheinbar unfassbaren Leichtigkeit die dramatischen Passagen bewältigt, als sei es ein Spaziergang. Seine beiden Wälse-Rufe dauern jeweils endlos gefühlte zehn Sekunden oder mehr, ohne dass die Stimme wackelt oder ihm der Atem ausgeht. Nur der Zuschauer vergisst dabei das Atmen. Schagers Bühnenpräsenz ist pure Lebensfreude ohne Kraftmeierei, und seine Stimmfärbungen variieren eindrucksvoll in den Szenen mit Christiane Libor und Eva Johansson. Doch bei aller Begeisterung über seine exzellente Stimmführung und sängerischen Ausdruck muss ein Kritikpunkt deutlich angesprochen werden. Seine Text-Schwächen sind schon auffällig, zu viele Hänger und eigene Wortkreationen, um die Lücken zu schließen. Das darf auf diesem Niveau nicht sein, da muss Schager noch deutlich am Text arbeiten, um nicht seine ansonsten herausragende sängerische Leistung zu konterkarieren.

Stefan Vinke ist ein guter alter Bekannter und so etwas wie der Wagner-Veteran unter den Heldentenören in Leipzig. Über Jahre hat er unter anderem als Tristan, Parsifal und Rienzi reüssiert, nun kommt er als Jung-Siegfried zurück. Und wie! Scheinbar ohne Mühen meistert er die anstrengenden Passagen im ersten Aufzug, hämmert ein Schmiedelied vom Feinsten, besiegt nebenbei heldenhaft den Wurm Fafner, lässt sich auch vom Wanderer nicht aufhalten, um dann mit fast kindlicher Naivität Brünnhilde zu erwecken. Und obwohl Vinke sich nicht schont, bleiben ihm zum finalen Duett mit Elisabet Strid die Kraft und die strahlenden Höhen für einen musikalischen Höhepunkt, der die Zuschauer fast von den Sitzen reißt.

Die große zentrale Figur im Ring ist Wotan, Gottvater. Bauherr von Walhall im Rheingold mit blasierter Selbstüberschätzung, als Gefangener seiner Verträge und Unterlegener im Zwist mit seiner Göttergemahlin Fricka, als wütender Rächer und trauriger Gottvater in der Walküre, und schließlich als suchender, wissender Wanderer im Siegfried, dessen Zeit zu Ende geht. Diese fulminanten Partien werden im Leipziger Ring durch drei exzellente, aber in ihrer Stimmlage ganz unterschiedliche Sänger besetzt. Tuomas Pursio verfügt über einen edlen Bariton mit schmeichelndem Timbre und einer warmen Mittellage. Eine angenehme und verführerische Stimme, die einerseits für den arroganten Wotan im Rheingold prädestiniert, gleichzeitig aber auch ideal für die Besetzung des schwachen, dekadenten Gunter in der Götterdämmerung angelegt ist. Pursio meistert beide Partien mit großem Stimmeinsatz und einer starken Bühnenpräsenz.

Markus Marquardt als Wotan in der Walküre begeistert erneut mit seinem dramatisch angelegten Bass-Bariton, mit großem musikalischem Ausdruck und innigem Gesang bei seinem Abschied von Brünnhilde. Dabei gilt für Marquardt, Ulf Schirmer am Pult und das Publikum einige Schrecksekunden zu überstehen. Nach der zweiten Szene im dritten Aufzug wartet alles auf den rasenden Wotan, der seine Tochter bestrafen will. Doch Marquardt kommt nicht von der Unterbühne hervor. Nach einem kurzen Moment des Wartens, wo die Walküren ihr Zwiegespräch ohne Wotan führen, bricht Schirmer das Dirigat ab, wendet sich dem Publikum zu und sagt etwas konsterniert: „Der Wotan ist nicht da“. Anschließend senkt sich der Vorhang, und Unruhe macht sich im Publikum breit. Sollte Marquardt seinen Einsatz etwa verschlafen haben? Mehr als unwahrscheinlich. Ist ihm was passiert? Vielleicht ein Kreislaufkollaps, eine akute Magen-Darm-Verstimmung? Oder ein Sturz? Als sich diese Schreckensszenarien im Publikum breit machen, man schon mit dem Abbruch der Vorstellung rechnet, geht der Vorhang wieder hoch, und auf der Bühne steht Marquardt als Wotan, auf seinem Speer gestützt, mit einer entschuldigenden Geste. Das Publikum reagiert dankbar mit aufmunterndem Applaus. Sein Leb wohl du kühnes, herrliches Kind gerät dann zu einem dieser großen magischen Momente des Rings. Am Schluss wird er umjubelt, und er steht immer noch mit entschuldigender Geste und verbeugt sich tief vor dem begeisterten Publikum, vor dem Orchester und vor Ulf Schirmer. Später wird zu hören sein, dass ein technischer Defekt in der Lautsprecheranlage dazu führte, dass Marquardt nicht rechtzeitig zu seinem Auftritt gerufen werden konnte.

Ihn trifft also überhaupt keine Schuld, und das hätte man sicherlich auch so dem Publikum gegenüber kommunizieren dürfen, auch im Sinne des Sängers, denn noch am nächsten Tag wird, vor allem beim ausländischen Publikum, diese Szene lautstark diskutiert.

Evgeny Nikitin als Wanderer bleibt im Siegfried von derartigem Missgeschick verschont, sein tief gelagerter Bass hat die notwendige Ausdruckskraft und Präzision, um die anspruchsvollen Passagen wie die Wissenswette im ersten Aufzug mit Mime, die große Erda-Szene und die Konfrontation mit Siegfried im dritten Aufzug mit kräftiger Stimme, markigem Ausdruck und stärker Bühnenpräsenz zu gestalten.

Eine weitere, groß gestaltende Persönlichkeit auf der Bühne ist Rúni Brattaberg. Sein mächtiger schwarzer Bass, seine kräftige Körperstatur und seine schon fast bedrohlich wirkende physische Bühnenpräsenz machen ihn zu einer Idealbesetzung für die beiden Bösewichter dieser Werke, Hunding und Hagen. Beide Rollen gestaltet er mit großer Intensität, aggressivem Spiel und einem manchmal schon dröhnenden Bass, der sich hervorragend mit den eigens angefertigten Stierhörnern im zweiten Aufzug der Götterdämmerung mischt. Dass er im Siegfried noch die kleine, im Vergleich zu Hunding und Hagen fast schon lyrische Rolle des Fafner mit sehr viel Fingerspitzengefühl gestaltet, sei hier nicht unterschlagen.

Jürgen Linn ist dem Leipziger Publikum in der Rolle als Alberich im Rheingold und im Siegfried schon bestens bekannt. Linn legt in seiner Rollenanlage großen Wert auf Deklamation, was vor allem in der ersten Szene im Rheingold sehr wichtig ist. Mit großem Körpereinsatz, wuchtigem Bass und starkem Ausdruck gelingen seine Partien, die Fluch-Szene im Rheingold ragt dabei heraus. Jochen Schmeckenbecher mit der kurzen, aber intensiven Partie des Alberich in der Götterdämmerung steht Linn in musikalischer Gestaltung und Ausdruck in nichts nach. Dan Karlström, der wendige Charaktertenor, gibt die beiden Partien des Mime im Rheingold und im Siegfried mit ausdrucksstarkem Spiel und Gesang und ist aufgrund seiner Statur und seiner Stimmmodulation eine Idealbesetzung dieser Figur.

Kathrin Göring hat sich in den letzten Jahren zu einer festen Größe im Wagner-Fach etabliert, nicht nur in Leipzig. Und es ist einfach schön zu erleben, wie diese Mezzosopranistin sich entwickelt hat, wie sie an der Rollengestaltung immer weiter arbeitet. Besonders deutlich wird das mit der Partie der Fricka in der Walküre. Stimmlich auf einer tiefen, warmen Mittellage fußend, kann sie in den dramatischen Passagen auch sopranartige Höhen erreichen, was der Rolle einen besonderen Ausdruck verleiht. Wie sie am Schluss ihrer Szene spöttisch auf Wotan herabblickt, ihn fast schon mit Verachtung straft und die anwesende Brünnhilde einfach ignoriert, das ist ganz große Kunst. Aber auch in den vermeintlich kleineren Rollen wie der Wellgunde im Rheingold und der zweiten Norn in der Götterdämmerung ragt sie mit ihrer markanten Stimme deutlich erkennbar heraus.

Durfte sie acht Tage zuvor noch die verzweifelte, hilfesuchende Waltraute in der Premiere der Götterdämmerung gestalten, fällt diese Aufgabe nun Karin Lovelius zu, die, deutlich tiefer gelagert mit der Stimme, der Waltraute einen anderen Ausdruck verleiht. Eher etwas zurückhaltender, angstvoller wirkt die Figur, wobei die Dramatik in der Stimme bei Lovelius etwas schärfer ist als bei Göring. Aber das ist das Interessante an dieser kleinen, aber so wichtigen Figur, dass im direkten Vergleich beide Interpretationen ihre Berechtigung haben. Als Fricka im Rheingold zeigt Lovelius ihrem Göttergemahl Wotan, wer die wirkliche Herrin in Walhall ist. Als Walküre Grimgerde ragt Lovelius markant aus der Schar heraus, um als erste Norn in der Götterdämmerung stimmlich bestens mit Kathrin Göring und dem jungen, auch schon etwas dramatisch wirkenden Sopran von Olena Tokar als dritter Norn zu harmonieren. Mit diesen vier Partien ist Karin Lovelius damit auch die Sängerin mit den meisten Auftritten im Ring.

Nicole Piccolomini begeistert mit ihrem dunkel gefärbten Mezzosopran und ihrem warmen Timbre in beiden Erda-Partien, während Eun Yee Yous Waldvogel aus dem Orchestergraben etwas zu dramatisch klingt, und man den Gesang des Waldvogels ohne Drachenblut oder Übertitel nicht verstehen kann. Aber Thomas Mohr als Siegfried sorgt dann mit seinem Erinnerungsgesang dafür, dass der Zuschauer spätestens in der Götterdämmerung verstanden hat, was der Waldvogel dem Jung-Siegfried vorgezwitschert hat. Marika Schönberg gibt eine jugendlich-dramatische Freia im Rheingold, und ihre Gutrune, die bei der Premiere der Götterdämmerung noch etwas blass geblieben war, hat nun die musikalische Qualität und den spielerischen Ausdruck, den man von dieser Partie erwartet. Auch alle weiteren Solisten, die im Ring mitwirken, wie auch der Damen- und Herrenchor der Oper Leipzig unter Alessandro Zuppardo zeigen großes sängerisches Engagement und haben genauso ihren Anteil am großen musikalischen Erfolg des Ring-Zyklus.

Die wahrscheinlich größte künstlerische Leistung aber haben Ulf Schirmer, Intendant und Generalmusikdirektor in Personalunion, am Pult und sein Gewandhausorchester im Graben vollbracht. An vier Abenden hintereinander, nach exakt 14 Stunden und 50 min reiner Spielzeit auf höchstem musikalischen Niveau, das ist eine schon bemerkenswerte Leistung, sowohl physisch als auch mental. Man spürt förmlich, wie alle darauf brennen, diesen Ring so intensiv und so dicht aufzuführen. Das Lebensgefühl, von dem Schirmer spricht, überträgt sich von ihm auf die Musiker und aus dem Graben auf das Publikum, dass schier süchtig zu sein scheint nach diesem ganz besonderen Gefühl. Das kann man auch nicht beschreiben, das muss man erleben. Es ist kein kollektiver Rausch, aber ein besonderes Gefühl als Zuschauer, nicht nur Zeuge, sondern Teil dieses Ring-Erlebnisses zu sein. Und Schirmer kostet sein Lebensgefühl, vielleicht sogar seinen Lebenstraum aus. Er trägt die Sänger über fast 15 Stunden hinweg, geleitet sie wie ein Lotse durch enge Rinnen und steile Klippen, um sich dann wie wilde Meeresbrandung an den orchestralen Stellen in einen Rausch zu spielen.

Schirmer zieht alle Register, wechselt die Tempi, wenn nötig, geht ins feinste Piano, um eine Brünnhilde hauchen zu lassen: Ruhe du Gott.  Er schlägt ins stürmische Forte bei Siegfrieds Rheinfahrt, und erneut ist der Trauermarsch in der Götterdämmerung vielleicht der emotionalste Moment des gesamten Ringes, der durch die Dichte des Geschehens noch intensiver nachwirkt.

An allen vier Abenden jubelt das Publikum frenetisch, feiert Schirmer, das Gewandhausorchester und die Sängerinnen und Sänger für eine monumentale Leistung, die internationales Format hat. Ein Riesenerfolg für die Oper Leipzig, für die Leitung des Hauses, die nun zum Ende der ersten Amtszeit von Schirmer die verdiente Ernte langjähriger und intensiver Arbeit einfährt. Aber auch die Stadt Leipzig hat sich als würdiger Gastgeber für dieses fachkundige, internationale Publikum gezeigt. Das Personal beim Caterer war verstärkt, viele gute Geister vor und hinter den Kulissen taten das ihrige, um dem Zuschauer ein großartiges, ja einzigartiges Wagner-Erlebnis zu vermitteln. Die nächsten Zyklen sind schon ausverkauft, und so manch ein Gast hat sich noch schnell die letzten Karten für die kommende Arabella-Premiere gesichert. Auch das Publikum ist großartig, diszipliniert und zu einem gewissen Maß auch leidensfähig und leidenswillig, wenn man 15 Stunden Wagner an vier Abenden erleben will. Das Publikum dankt es mit langanhaltenden Ovationen.

Dieses Ring-Erlebnis wirkt nach, ist leidenschaftlich und so intensiv, wie es die vier Einzelwerke bei nicht-zyklischer Aufführung niemals sein können. Und eine kleine Empfehlung für Katharina Wagner gibt es auch. Sie sollte der Stadt ihres Urgroßvaters mal wieder einen Besuch abstatten und vielleicht genau dieses Gefühl spüren, von dem Schirmer spricht. In sechs Wochen hätte sie dazu Gelegenheit. Leipzig ist eine Wagner-Stadt, denn Richard ist Leipziger!

Andreas H. Hölscher