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Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Tom Schulze

Aktuelle Aufführungen

Vollendet das ewige Werk

GÖTTERDÄMMERUNG
(Richard Wagner)

Besuch am
30. April 2016
(Premiere)

 

 

Oper Leipzig

Mit diesen Worten, voller Stolz und musikalisch untermalt mit dem Walhall-Motiv, verkündet im Rheingold Wotan seiner Gemahlin Fricka die Vollendung des Baus der Burg Walhall, wo die Götter für die Ewigkeit residieren sollen. Dieselben Worte darf man aber auch ohne falsches Pathos für das Leipziger Ring-Projekt verwenden. Nach über fünfjähriger Planungs- und Konzeptionsarbeit, fast genau drei Jahre nach der Premiere des Rheingolds erlebt die Oper Leipzig nun mit der Premiere der Götterdämmerung die Vollendung des ersten Leipziger Ring des Nibelungen seit vierzig Jahren. Ein Mammutprojekt, eine organisatorische und logistische Meisterleistung, die Sänger, Orchester, Bühnenwerkstätten und Kostüm-Schneidereien, aber auch Intendanz und Regieteam alles abforderte und sich am Schluss zu einem Ring ohne Brüche, zu einem großartigen Gesamtkunstwerk zusammenfügt.

Schon vor Beginn der Aufführung ist die Spannung in der ausverkauften Leipziger Oper körperlich spürbar. Über ein Jahr hat die Wagner-Gemeinde nach der Premiere Siegfried  auf den letzten Teil warten müssen, und die spannende Frage war, hat das Regieteam um Rosamund Gilmore sein Konzept weiterentwickelt, es sogar vollenden können? Was ist mit den mythischen Wesen, werden wir ihnen wieder begegnen? Was wird ihre Deutung des Endes, der Götterdämmerung sein. Verfall ins Chaos oder Hoffnung auf einen Neubeginn? Und wie wird Ulf Schirmer, Intendant und Generalmusikdirektor an der Oper Leipzig in Personalunion, die inszenatorischen Vorgaben musikalisch umsetzen?

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Fragen über Fragen, die im Raume stehen und die im Vorfeld intensiv diskutiert werden. Um es vorweg zu nehmen, es gibt auf alle Fragen eine Antwort, die der einzelne Besucher für sich anders interpretieren mag, aber man darf sicher noch einmal Wotan zitieren, wenn man Wagners Ring des Nibelungen als ein Gesamtkunstwerk versteht: Vollendet das ewige Werk.

Foto © Tom Schulze

Gilmore bleibt bei ihrem Konzept, Wagners Musik zu visualisieren und eine Geschichte zu erzählen, die nachhaltig ist und zum Nachdenken anregt. Die mythischen Wesen, die wir zum Teil schon aus den ersten drei Ring-Opern kennen, begegnen uns hier wie guten alten Bekannten. Das Pferd Grane, in der Walküre schon ein Schlüsselbild, wird hier noch mehr personifiziert, auch Dank der ausdrucksstarken Bühnenpräsenz von Ziv Frenkel. Grane ist mehr als nur ein Geschenk Brünnhildes an Siegfried. Es ist treuer Begleiter, Wächter und emotionaler Ausdruck seines Herren Siegfried. Das vielleicht bewegendste  Bild im ganzen Ring ist die Szene, wo Grane den toten Siegfried auf seinem Rücken zu den Klängen des Trauermarsches zu Gibichs Halle trägt. Hier verschmilzt die Symbiose aus Musik und erzählten Bildern zu einer visuell erlebbaren symphonischen Dichtung. Aber auch die anderen Wesen, seien es die Nornen-Schatten, die Wasserelemente des Rheins, das Gibichungen-Dienstpersonal oder die schon hinlänglich bekannten Raben Wotans, sie alle visualisieren Wort und Musik, geben der Geschichte eine neue Facette, ohne oberlehrerhaft dem nichtwissenden Zuschauer den Ring erklären zu wollen. Großartig auch die Idee, die Göttererscheinungen auf die Bühne zu bringen. Seit dem Rheingold wissen wir, dass sie ihrem Ende zu eilen, wie Loge es trefflich formuliert hat. Und in der Walküre herrscht Krieg zwischen Wotan und seiner Gemahlin Fricka. Letztlich ist es dieser Ehezwist und Wotans fehlende Einsicht, was Vertragstreue anbelangt, was das Ende der Götter schon frühzeitig beschließt. Ein düstrer Tag dämmert den Göttern verkündet Erda schon im Rheingold, und es sind Wotans Worte an Brünnhilde in der Walküre, wenn er voller Verzweiflung prognostiziert: nur eines will ich noch: das Ende … Und die Götter fürchten um ihr Ende. Obwohl keiner von ihnen mehr als Figur in der Götterdämmerung erscheint, geht es letztendlich um sie, um ihr Ende, und damit auch das Ende einer dekadenten Herrschaft.

Gilmores Kunstgriff, mit Hilfe der Göttererscheinungen Wotan, Fricka, Freia, FrohundDonner als ängstlich beobachtende Gestalten, die auf ihr Ende warten, mehrfach kurz auf die Bühne zu bringen, ist nicht nur ein interessanter Regiekniff, es ist auch die immerwährende Mahnung, dass alles endlich ist, auch die Herrschaft der eigentlich unsterblichen Götter. Wenn am Schluss das Bühnenbild ineinander zerfällt, die Götter im wahrsten Sinne des Wortes untergehen, dann wird die Götterdämmerung wörtlich zitiert. Doch Gilmore erzählt nicht nur in fesselnden Bildern, sondern sie ordnet den Figuren auch eine dezidierte Rolle in diesem Gefüge zu, und bleibt damit ihrem bekannten Linienkonzept der ersten drei Werke treu.

Im Zentrum der Personenregie steht Hagen, Alberichs Sohn. Ein Antiheld, gefühlskalt und von Hass beseelt. Sein ausschließlicher Sinn ist es, den Ring, der unendliche Macht verheißt, von Siegfried zu gewinnen. Nicht für Alberich, sondern für sich. Hagen ist eine eigenständige Persönlichkeit, der in seinem strategischen Denken Vater Alberich um Längen überragt und ein Meister der Manipulation ist. Seine Halbgeschwister Gunther und Gutrune, die Gibichungen, sind da nur schwache, willfährige Objekte. Die Gibichungen sind eine reiche, verwöhnte, dekadente, aber verschwächlichte Gesellschaft, die von Hagen nur zu leicht manipuliert werden kann. Gunther wirkt wie ein kokainsüchtiger Managertyp, der auf Entzug ist. Hypernervös, fahrig, mit zwanghaftem Verhalten, wenn er mit seinem Ärmel andauernd die Glasplatte des Tisches zu säubern versucht. Gutrune wirkt verklemmt, beziehungsunfähig, ohne eigene Meinung, komplett von Hagen beherrscht.

Auch Siegfried wird Hagens Opfer, selbst wenn es dazu der Hilfe des Vergessenstrunks bedarf. Mit der gesponnenen Intrige, dass Siegfried zwar Brünnhilde für Gunther – in dessen Gestalt – freit, aber letztendlich Brünnhildes Gatte ist und damit seine vermeintliche Verlobte Gutrune enteehrt habe, rechtfertigt Hagen das Todesurteil gegen Siegfried. Ihm geht es aber nicht primär um den Tod Siegfrieds, er ist lediglich Mittel zum Zweck, den Ring zu erbeuten, den er vom lebenden Siegfried nicht gewinnen könnte. Siegfried ist der Naturbursche, etwas naiv, auf seine Kraft und Stärke vertrauend, der eher das Gute im Menschen sieht und zu spät realisiert, welch furchtbarer Intrige er zum Opfer fällt. Brünnhilde ist nicht mehr die starke, unbezwingbare Walküre, sie hat den Wandel zur liebenden Frau vollzogen, die sich betrogen fühlt, die auch Rachegelüste hat, um am Ende zu erkennen, dass ihr Opfer einem höheren Zwecke dient. Mit dieser klaren Personenregie erzählt Gilmore die Geschichte zu Ende.

Waren die Bühnenbilder von Carl Friedrich Oberle in den ersten drei Werken noch in Zeitsprüngen verwandelt worden, so entsteht in der Götterdämmerung ein völlig neues Bild. Wir sind in der Jetztzeit angekommen. Die Halle der Gibichungen wirkt wie eine große moderne Atelierwohnung, wie man sie heute als Loft in umgebauten Fabrikhallen finden kann. Fünf große Säulen stehen im Zentrum, sie sind Pfeiler und Versteck oder Zutritt zur Halle. Am Schluss erfahren wir, dass die Zahl fünf hier eine besondere Bedeutung hat, denn die fünf Götter(erscheinungen) werden am Ende mit jeweils einer Säule untergehen. Eine große Fensterfront öffnet den Blick auf den Rhein, und diese Front ist dank des grandiosen Lichtdesigns von Michael Röger mal Wasser, mal Erde, mal Feuer.  Rechts oben befindet sich ein offener Balkon, Brünnhildes geschützter Bereich, bevor Siegfried sie betrügt. Dieses Bühnenbild bleibt über alle drei Aufzüge unverändert bestehen, nur wenige Requisiten werden verändert, um die neuen Szenen darzustellen.

Es sind alles offene Verwandlungen, und die Gibichungen-Bediensteten sowie die anderen schon erwähnten mythischen Wesen fungieren nebenbei als dezente Bühnenarbeiter, die tänzerisch die wenigen Requisiten von der Bühne oder auf die Bühne bringen. Im Hintergrund erkennt man ein großes Bodenregal mit Überbleibseln aus den vergangenen drei Werken. Etwas Gold, Brünnhildes Brustpanzer, Helm und Speer, ein Paar Stiefel gefallener Helden, wie ein Reliquienschrein mahnen diese Accessoires an die Macht und den Fluch des Ringes. Ein Piano auf der Bühne steht für den Reichtum der Gibichungen, wird aber zum Schluss der Aufbahrungsort des toten Siegfried und gleichzeitig Scheiterhaufen, in dem Brünnhilde, Siegfried und Grane verbrennen.  Die Kostüme von Nicola Reichert haben sich ebenfalls der Moderne angepasst, ohne einen ganz konkreten Zeitbezug zu haben. Tragen die Gibichungen eher stylische Glamourkleidung, wirken Brünnhilde und Siegfried in ihrer Arbeitskluft eher postkommunistischer Herkunft. Hagen und Alberich tragen die gleichen Outfits, während Hagens Mannen in ihren hellbraunen Uniformmänteln und Barretten eher britischen Soldaten der Nachkriegszeit ähneln – vielleicht mit einem Augenzwinkern an Gilmores Heimat – ohne dass damit künstlich eine politische Assoziation herbeigeführt wird.

Hagen ist nicht nur ein Machtmensch, er führt seine Mannen militärisch, die in ihm und nicht in Gunther den Befehlshaber anerkennen. Die Nornen wirken in ihren schwarzen Gewändern elegant-düster, während die Rheintöchter ihre erotischen Kostüme aus dem Rheingold beibehalten haben. Bühnenbild, Kostüme und Lichtdesign ergeben aber einen klaren optischen Dreiklang, der visuell aufeinander abgestimmt ist. Fesselnd die Schlussszene, wenn die Bühne in rotes Licht getaucht, von oben große Stofftücher herabfallen, wie Feuerflammen, die alles verzehren, bis sich der Boden öffnet, die Säulen auseinanderbrechen und je zur Hälfte mit den Göttern sowie den toten Protagonisten im Boden versinken oder in die Höhe gehoben werden. Die Rheintöchter haben den Ring vom toten Siegfried gezogen, verschwinden im tiefen Blau des Rheins, und auch Hagen, noch immer von der Gier nach Macht zerfressen, springt hinterher und verschwindet im Nichts. Es bleibt die Natur im Einklang mit der Musik, und die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Neuanfang, nach der Reinigung durch das Feuer und das Löschen des Weltenbrandes durch das Wasser.

Diese Premiere ist aber auch der Abend der großen Rollendebüts mit beeindruckenden Stimmen. Allen voran Christiane Libor als Brünnhilde und Thomas Mohr als Siegfried. Über ein Jahr hat sich Libor auf diese Partie vorbereitet, und der Wechsel vom jugendlich-dramatischen Fach ins Hochdramatische ist ihr gut bekommen. Sie hat die strahlenden Höhen, die eine Brünnhilde braucht, sie beherrscht die dramatischen Ausbrüche wie bei der Schwurszene,  kann aber aufgrund ihrer warmen und etwas tiefen Mittellage auch in den Duetten mit Siegfried sehr viel Weiblichkeit in die Stimme legen.

Scheint am Anfang noch etwas Nervosität im Spiel und in der Stimme zu liegen, so befreit sich Libor im Laufe des Abends eindrucksvoll davon, um in der Schlussszene eine grandios strahlende Brünnhilde abzugeben, die mit leuchtendem Schlussgesang ihrem toten Siegfried ins Feuer folgt. Auch Thomas Mohr gibt mit der Partie des Götterdämmerungs-Siegfried sein Rollendebüt. Dem Publikum schon als listiger Loge bekannt, scheint ihm diese Partie nun wie auf den Leib geschneidert. Ohne Mühen meistert er die Partie, sein Tenor hat große Stahlkraft in den Höhen, ein angenehmes Timbre in der Mittellage, und seine Diktion ist lehrbuchhaft, da bedarf es keiner Übertitel mehr. Die Duette mit Brünnhilde, besonders in der Abschiedsszene des ersten Aufzuges, sind reine Stimmenharmonie, seine Schlussgesang und letztes Gedenken an Brünnhilde voll beseelter Innigkeit. Rúni Brattaberg als Hagen ist auch stimmlich der grandiose Antiheld. Überzeugte er in der Walküre schon als brutaler Hunding, so ist sein Hagen nochmals eine Steigerung. Sein schwarzer, dröhnender und furchteinflößender Bass ist idealtypisch für diese Rolle, und wenn er seine Mannen im zweiten Aufzug ruft oder am Schluss gegenüber Gutrune verächtlich ausruft, dass er, Hagen, Siegfried erschlagen habe, dann liegt in seinem stimmlichen Ausdruck eine Stärke und gleichzeitig eine Gefühlskälte, die Ihresgleichen sucht.

Thomas Pursio, der im Rheingold den Wotan gibt, hat mit der Rolle des Gunther stimmlich und spielerisch einen neuen Akzent gesetzt. Sein Bariton ist schmeichelnd, aber er lässt alle Facetten von Schwäche, Angst und vorgespielter Stärke zu und ist damit der ideale Kontrapunkt zu Mohrs strahlendem Tenor und Brattabergs schwarzem Bass. Wunderbar die stimmliche Verschmelzung mit Thomas Mohr in der Blutsbrüderschaft-Szene, die an die wenigen großen Tenor-Bariton-Duette in den Perlenfischern oder an Verdis Don Carlos erinnert. Demgegenüber bleibt das Debüt von Marika Schönberg als Gutrune etwas blass. Sie singt und spielt die Partie durchaus solide, doch bleibt der Gesamteindruck im Vergleich zu den Leistungen der anderen Protagonisten etwas zurück.

Ganz anders dagegen Kathrin Göring. Als Fricka im Rheingold und in der Walküre, als Adriano im Rienzi und zuletzt als Kundry im Parsifal hat sie an der Oper Leipzig bewiesen, dass sie in den letzten Jahren zu einer der führenden Mezzosopranistinnen im Wagner-Fach herangereift ist. In der Götterdämmerung überzeugt sie als zweite Norn, aber begeistert vor allem durch ihre intelligente Stimmführung und emotionale Interpretation der Rolle der Waltraute. Wie sie innig, voller Verzweiflung versucht, Brünnhilde zu überreden, ihr den Ring zu geben, um den Untergang Walhalls zu vermeiden, das geht unter die Haut. Ihre teils lyrische, teils dramatische Waltrautenerzählung ist sicher ein Höhepunkt des Abends und muss große Vorbilder wie Waltraut Meier nicht scheuen. Jürgen Linn hat nur einen Kurzauftritt als Alberich, doch den gestaltet er mit derselben Intensität und Boshaftigkeit, wie es ihm schon mit dieser Figur im Rheingold und im Siegfried gelungen ist.

Karin Lovelius und Olena Tokar eröffnen gemeinsam mit Kathrin Göring als Nornendas Stimmenfestival, das durch Magdalena Hinterdobler als Woglinde, Sandra Maxheimer als Wellgunde und Sandra Janke als Flosshilde mit ausdrucksstarkem Gesang und engagiertem Spiel abgerundet wird. Beiden Trios ist eine klare Diktion und eine ausgeprägte Stimmenharmonie gemein.

Auch der Herrenchor der Oper Leipzig, unterstützt von einigen wenigen Damen, darf an diesem Abend mit dem Auftritt als Hagens Mannen im zweiten und dritten Aufzug ihrem umfangreichen stimmlichen Repertoire eine neue Facette hinzufügen. Kraftvoll, ohne zu dröhnen, und lyrisch, ohne zu säuseln, bildet der Chor, wieder hervorragend eingestimmt von Alessandro Zuppardo, eine musikalische Säule an diesem Abend.

Die herausragende Persönlichkeit dieses Abends ist ohne jeden Zweifel Ulf Schirmer am Pult des Gewandhausorchesters. Was er an Farben, an Intensität, an Wohlklang, an Ausdruck aus diesem Orchester herausholt, ist mehr als beeindruckend. Schon im Nornen-Vorspiel erklingen die ersten Töne scharf und unheilvoll, als Vorboten des bevorstehenden Endes der Götter. Großartig der musikalische Übergang von der ersten zur zweiten Szene, wenn es plötzlich emotional und leidenschaftlich wird. Litt das Dirigat in früheren Aufführungen von Schirmer öfter darunter, dass er zu laut dirigierte oder die Sänger überdeckelte, so hat er das komplett abgelegt. Grade die Sänger begleitet er hochsensibel, immer darauf bedacht, deren Gesang in den Vordergrund zu stellen und dienlich zu begleiten und zu tragen. Aber Schirmer ist auch ein leidenschaftlicher und emotionaler Dirigent, der an den reinen Orchesterstellen wie ein Reiter die Zügel zurücknimmt und seinem Orchester die Sporen gibt. Sei es in der Szene, wenn Hagen seine Mannen ruft, unterstützt durch drei extra angefertigte Stierhörner auf der Bühne, oder Siegfrieds Rheinfahrt im ersten Aufzug. Doch der grandiose musikalische Höhepunkt ist sicher das große Finale. Zunächst begleitet er den sterbenden Siegfried im Piano, um sich dann beim Trauermarsch immer mehr ins Forte hochzuschwingen.  Dieser Trauermarsch ist voller Emotion, Spannung und Trauer, ohne jedoch in ein übersteigertes Pathos zu verfallen. Zusammen mit dem Bild von Grane, das den toten Siegfried auf seinem Rücken trägt, ist dieser Moment der Höhepunkt des Abends, voller Gänsehaut und Gefühl, dessen man sich seiner Tränen nicht schämen muss. Aber Schirmer kostet diese Emotion nur kurz aus, springt wieder in die Realität der vorletzten Szene, dem  Kampf um den Ring als Beutegut, bevor mit Brünnhildens Schlussgesang und dem orchestralen Finale der Götterdämmerung der letzte musikalische Höhepunkt erfolgt. Als der Weltenbrand durch den über die Ufer tretenden Rhein gelöscht wird, bevor die Musik sich beruhigt und die Hoffnung auf eine neue Weltenordnung entstehen kann, befindet sich in der Partitur eine Fermate, eine kleine Pause, die aber einen Rieseneffekt hat. Viele Dirigenten gehen darüber hinweg, aber Schirmer nutzt diese Fermate, um Atem zu schöpfen, um den Effekt des Wandels von der Zerstörung zur Erneuerung aufzuzeigen.

Die kleine Fermate und der Übergang zur beruhigten Orchestermusik, in der am Schluss wieder das Rheingold-Motiv erklingt, stehen symbolisch für die Erlösung, aber auch für die Vollendung des Gesamtkunstwerkes. Schirmer hat diesen Schluss auf beeindruckende künstlerische Art gelöst. Das Orchester folgt seinem präzisen Schlag, seinen Tempiwechsel und seinen Betonungen. Das es einige wenige kleine Verspieler bei den Bläsern gibt, sei nur der Vollständigkeit halber angemerkt, es mindert den Gesamteindruck in keinster Weise.

Das wagnerkundige Publikum dankt Schirmer und seinem Orchester mit großem Jubel und stehenden Ovationen. Aber auch die Sänger werden für ihre großartigen Leistungen gefeiert, allen voran Christiane Libor, Thomas Mohr, Rúni Brattaberg und Kathrin Göring. Das Regieteam um Rosamund Gilmore muss sich erwartungsgemäß beim ersten Vorhang einigen deutlichen Buhrufen stellen, aber es gibt genauso viele Bravo-Rufe für die Inszenierung, die polarisiert, die zur Diskussion anregt, die aber nicht spaltet. Und Schirmer als Intendant ist seiner Linie, das Konzept des Regieteams über drei Jahre zu unterstützen, treu geblieben. Sein Mut und seine Weitsicht sind belohnt worden, Leipzig hat nach 40 Jahren wieder einen Ring des Nibelungen, der internationales Format besitzt und dessen Kunde auch ins nur 180 Kilometer entfernte Bayreuth dringen sollte.

Bleibt noch eine Herausforderung. In der kommenden Woche wird der Ring erstmals zyklisch über die Bühne gehen, und das gleich an vier Abenden hintereinander, ohne Pause dazwischen. Ein neues Meisterstück an Logistik, Technik und an Anforderung an Sänger, Orchester und Dirigenten. Leipzig will es wissen. Nach diesem Abend gibt es aber keine Zweifel, dass dieser erste Zyklus als Gesamtkunstwerk ebenfalls ein Erfolg werden wird.

Andreas H. Hölscher