Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Matthias Stutte

Aktuelle Aufführungen

Hoch gesprungen

PETRUSCHKA/OFFENBACH
(Robert North)

Besuch am
6. Dezember 2015
(Premiere)

 

Theater Krefeld Mönchengladbach,
Krefeld

Wer hat im Theater Krefeld vor der Aufführung die Personaltoiletten abgesperrt? Anders ist wohl kaum zu erklären, warum die Niederrheinischen Sinfoniker den Graben verlassen, während das Publikum – auch ihnen – zur Pause Beifall zollt. Orchestermusiker und ihre Gewerkschaft wundern sich, warum ihre Arbeitsplätze in Deutschland gleich orchesterweise abgeschafft werden? Wer so demonstriert, dass er nicht dazu gehören will, braucht sich wirklich nicht zu wundern, wenn sein Arbeitsplatz irgendwann als überflüssig empfunden wird.

Dabei ist das Publikum gerade an diesem Abend ganz nah beim Bühnen- und damit Musikgeschehen. Nachdem Robert North sein neues Programm Petruschka/Offenbach im März in Mönchengladbach vorgestellt hat, ist es heute in Krefeld so weit. Das Haus: ausverkauft. Das Publikum am Sonntagabend: überwiegend jenseits der Pensionsgrenze. Die Stimmung: großartig. Die Menschen freuen sich auf das, was kommt, weil sie es ja kennen: Ballett von Robert North. Überraschungen sind nicht zu befürchten.

POINTS OF HONOR
Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

An diesem Abend hat der Ballettdirektor das klassische Handlungsballett Petruschka von Igor Strawinsky einem Reigen von Offenbach-Melodien gegenübergestellt. Den Berührungspunkt zwischen den Komponisten sieht er darin, dass beide in Paris wirkten. Manchmal können kleine Zufälle dafür sorgen, dass Großes entsteht. Andrew Storer hat für Petruschka ein eher abstraktes Bühnenbild gewählt. Große, farbige Flächen sind das Thema für die verschiebbaren Elemente, die im Lauf der Handlung oft bewegt werden, nicht immer ganz nachvollziehbar für das Publikum. Aber sie sind Thema der Kostüme. Das Corps ist in verschiedene Gruppen aufgeteilt. Da gibt es die Tänzerinnen in roten Hosen und T-Shirts, die Tänzerinnen in grauen Kleidern, die Tänzer in grauen Anzügen und so weiter. Große, farbige Flächen haben übrigens eine beruhigende Wirkung. So wird der Effet des Tanzes gebrochen. Höhepunkt für das Publikum ist der Auftritt des Scharlatans mit einer janusköpfigen Maske. Hinten alter Mann, vorne Tod. Zwar werden dem Kundigen die einzelnen Handlungsabschnitte klar – Verwandlung der Puppen in Menschen, der Jahrmarkt zeigt einen Bären in russischer Uniform – eine weitergehende Deutung erschließt sich nicht. Ist vielleicht auch nicht nötig, denn die Tanzdarbietung steht im Vordergrund. Ein sprung- und schrittfreudiges Corps treibt die Handlung auch gegen die streckenweise eher sperrige Musik Strawinskys voran. Dass die grand jetés dabei beachtliche Höhe spielerisch leicht erreichen, entzückt das Publikum.

Paolo Franco als Jacques Offenbach und Karine Andrei-Sutter als Muse - Foto © Matthias Stutte

Bei Offenbach geht es wesentlich differenzierter, aber auch süffiger zu. Storer minimiert das Bühnenbild, verlässt sich – zu Recht – auf ein Prospekt des Eiffelturms und kleinere Szenen, die aus den Vorhängen auftauchen. Seine Kostüme werden wunderbar fantasievoll und abwechslungsreich. Das Geschehen jetzt szenischer, nur noch von einer Rahmenhandlung gefasst. Jacques Offenbach darf nach seinem Tod noch einmal in ein Paris seiner Zukunft zurück: Anlass für Staunen, starke Brüche und – großes Ballett. Karine Andrei-Sutter spielt die Muse Offenbachs und hat nach sechs Jahren ihre Spitzenschuhe „wieder ausgepackt“, erzählt sie. Welch ein Glück! Der Spitzentanz ist nicht erfunden worden, um Tänzerinnen zu quälen, auch wenn das immer wieder gern suggeriert wird, sondern weil er eine ganz besondere Form der Anmut ausdrückt. Wer das bezweifelt, möge sich Andrei-Sutter in Krefeld anschauen. Nicht minder überzeugend ist Paolo Franco als Jacques Offenbach. Mit seinen zahlreichen, gekonnten bourées lässt er den Eindruck eines Mannes zwischen Albert Einstein, Charles Chaplin und – eben Jacques Offenbach entstehen. Wunderbar. Wie auch die Leistung des Corps und der übrigen Solisten.

Alexander Steinitz führt seine Sinfoniker – in der Pause hat jemand den Hausmeister mit dem Generalschlüssel gefunden und alle sind pünktlich aus der Pause wiedergekehrt – mit lockerer, weil bestens einstudierter Hand. Sowohl die teils sehr bildliche Sprache Strawinskys als auch bei Offenbachs opulenter Melodienlust findet das Orchester den rechten Ton, wobei es bei den Walzern schon sehr wienerisch wird. Aber schön ist das und korrespondiert zum Geschehen auf der Bühne. Dass Steinitz zudem in der Lautstärke keine Rücksichten nehmen muss, lässt den Klangapparat zur vollen Entfaltung bringen.

Man möchte nicht genug sehen und hören von diesen Darbietungen? Doch. Irgendwann ist es gut. Zum Beispiel nach dem Cancan, zu dem das Publikum begeistert mitklatscht. Aber die Coda. Und noch eine Coda. Und eine weitere Verlängerung. Und dann ist es doch geschafft.

Der Applaus bricht sich Bahn. Ältere Herrschaften erheben sich von ihren Sitzen, obwohl das durchaus nicht mehr so einfach ist. „Bravo“ schallt es durch den Raum. North‘ Erfolgsrezept hat wieder einmal funktioniert. Und die Tänzer leisten Übermenschliches. Vielleicht gelingt es dem Ballettdirektor auch noch, die Jungen in seinen Bann zu ziehen. Dann wäre alles gut.

Michael S. Zerban