Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Gerd Uhlig

Aktuelle Aufführungen

Ohne Piano

LUCIA DI LAMMERMOOR
(Gaetano Donizetti)

Besuch am
12. Juni 2016
(Premiere)

 

 

Oper Köln, Staatenhaus

Bisher haben sich die Spielstätten im Deutzer Staatenhaus als erträgliche Ausweichquartiere der Kölner Oper behaupten können. Die letzte Premiere der Saison mit Donizettis schottischem Schauerdrama Lucia di Lammermoor legt jedoch die latenten Probleme in aller Schärfe offen. Das Orchester wird außer Sichtweite des Publikums an den linken Seitenrand gedrängt, was die Dirigentin Eun Sun Kim veranlasst, die Partitur im Dauerforte durchzuziehen, was die an sich erstklassigen Sänger zu entsprechenden vokalen Gewaltakten animiert, die an stimmlichen Overkill grenzen. Gelegenheiten, Donizettis Belcanto-Pralinés per messa di voce mit einer organisch an- und abschwellenden Tonbildung nuanciert aussingen zu können, gibt es nicht.

Ein zweites Problem bereiten die Sichtverhältnisse. Wenn man die zentrale Spielstätte ebenerdig anlegt, sind die Sänger auf vielen Plätzen nur noch zu erahnen. Ganze Szenen verlaufen quasi unsichtbar.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Dass Scotts Schotten-Schocker jeden Regisseur, der sich nicht mit der Rolle eines Märchenerzählers begnügen will, vor große Probleme stellt, ist bekannt. Die Handlung , in der sich Lucia der von ihrem egoistischen und abgebrannten Bruder arrangierten Zwangsheirat mit einem reichen Galan durch den Mord an ihrem aufgezwungenen Bräutigam entziehen will und im Wahnsinn stirbt, scheint zwar recht vordergründig auf Bühnenwirksamkeit zugeschnitten zu sein, bietet jedoch durchaus Ansätze für eine psychologisch deutbare Inszenierung, auch wenn die Figuren recht holzschnittartig gezeichnet sind und mit denen des reifen Verdi oder Puccinis nicht konkurrieren können.

Foto © Gerd Uhlig

Das genügt Eva-Maria Höckmayr allerdings nicht. Die begabte, junge Regisseurin, die in Aachen mit einer subtilen Deutung von Debussys Pelléas et Melisande und in Köln mit einer ebenso überzeugenden Suor Angelica aus Puccinis Trittico hervorgetreten ist, möchte der Geschichte zu einer historischen Logik verhelfen und verpflanzt die Handlung ans Ende des Dritten Reiches. Edgardo ist in ihrer Vorstellung Spross einer von Enricos arischer Sippe vertriebener jüdischer Familie. Schauplatz ist das ehemals enteignete Mies-van-der-Rohe-Haus Tugendhat. Arturo tritt als amerikanischer Besatzungssoldat in Erscheinung, mit dem sich Enrico arrangieren will. Bis dahin eine überflüssige, wenig hilfreiche, aber nicht weiter störende Verpflanzung, mit der sich die Regisseurin freilich nicht zufriedengibt. Sie dichtet dem Stoff noch eine inzestuöse Beziehung zwischen den Geschwistern an, so dass Enrico den armen Bräutigam in einem Eifersuchtsrausch umbringt. Lucia und Enrico schießen sich dann im gemeinsamen Bett jeweils eine Kugel in den Kopf, der verzweifelte Edgardo schlitzt sich mit einer Rasierklinge lebenswichtige Blutgefäße auf. Damit endet das Stück als Grabstätte und nähert sich damit wieder dem Original.

Dass Höckmayr den grimmen Enrico nicht als eindimensionalen Bösewicht akzeptieren will und ihm ein eine verbotene Geschwisterliebe aufpfropft, ist zwar gut gemeint, zeigt aber nur, wie wenig Vertrauen sie in die Zugkraft des Librettos setzt. Die Musik, die ohnehin jenseits aller schottischen, nationalsozialistischen oder inzestuösen Ein- und Ausfälle ein kantables Eigenleben führt, bleibt von den mehr und meist weniger sinnvollen Verrenkungen relativ unberührt. Ihre Wahnsinns-Arie singt Lucia auch angesichts solcher Eingriffe im gewohnt weißen Nachthemd.

Christian Schmidt lässt sich für das Einheitsbühnenbild von der authentischen Villa Tugendhat inspirieren und schafft damit zwei Spielebenen, deren untere, wie gesagt, für große Teile des Publikums uneinsehbar bleibt. Anders die großen rechteckigen Fenster im ersten Stock des klobigen Baus, die unter anderem den Blick in das Schlafzimmer ermöglichen. Eine nüchterne Kulisse ohne atmosphärische Reize, nicht mehr und nicht weniger.

Eun Sun Kim am Pult des druckvoll musizierenden Gürzenich-Orchesters dirigiert das Stück wie eine Kampfansage. Piano-Töne erklingen nur selten, differenzierte Klangfarben weichen einem Dauer-Forte. Dass in der Wahnsinns-Arie die Harfe durch eine Glasharfe ersetzt wird, kann den Mangel an sängerdienlicher Sensibilität nicht auffangen.

Die Sänger haben am meisten unter den ungünstigen Bedingungen zu leiden. Sie singen stets an der Grenze ihrer dynamischen Möglichkeiten. Erstaunlich, dass Atalla Ayan mit seinem strahlenden Tenor noch einiges an Legato-Kultur erkennen lassen kann. Eine Glanzleistung, die noch zu steigern wäre, ließe ihm die Dirigentin die Gelegenheit zu feineren Zwischentönen und Atempausen.

Das berührt natürlich auch die Leistung der ausstrahlungsstarken Olesya Golovneva in der Titelrolle. Für die Koloraturen bringt sie die nötige Geschmeidigkeit mit. Aber auch sie singt am Limit, wenn die Spitzentöne nur noch herausgebrüllt werden können. Auf Dauer kommt diese Praxis einem vokalen Harakiri nahe.

Weniger gefährdet sind da Boaz Daniel als Enrico mit seinem robusten Bariton und Henning von Schulmann mit seinem etwas blass tönenden Bass. Aber stimmerhaltend ist der Umgang mit Donizetti in dieser Produktion generell nicht.

Das Premieren-Publikum spart nicht mit Zwischenapplaus, wenn auch mitunter vorschnell, grob und an den falschen Stellen. Am Ende Ovationen für die Protagonisten und einige Buh-Rufe für das szenische Team. Ein durchwachsener Saison-Abschluss der ersten Spielzeit im Staatenhaus, die insgesamt recht glimpflich verlaufen ist. Doch bis zur Annäherung an frühere Glanzzeiten ist der Weg noch weit.

Pedro Obiera