Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Matthias Baus

Aktuelle Aufführungen

Im Neverland 2.0

AUFSTIEG UND FALL
DER STADT MAHAGONNY

(Kurt Weill)

Besuch am
16. Januar 2016
(Premiere)

 

Theater Koblenz

Jede Inszenierung dieser bitterschwarzen Abrechnung mit dem ahistorisch begriffenen, weil zeitlich grenzenlos gedachten Kapitalismus muss eine Antwort auf die Frage finden, warum es plausibel ist, das Stück Bertolt Brechts und Kurt Weills heute auf die Bühne zu bringen. 1927 in Baden-Baden, bei der Uraufführung eines Vorläufers der späteren Oper, der Songrevue nach Texten aus Brechts Hauspostille, und 1930 in Leipzig, bei der Uraufführung des vollendeten Dreiakters, liefen die Besucher Sturm gegen ein Musiktheater, dessen hochdramatische Aktualität sie nicht annehmen mochten oder konnten. Und gegen die Musiksprache des gerade erst 30-jährigen Komponisten, der unter dem Einfluss der Wiener Schule nichts weniger im Sinne hatte als einen Bruch mit der Operettenseligkeit des Berliner Mainstreams.

Die Stadt Mahagonny, Brechts fiktiver Topos im Überall und Nirgendwo, ein Neverland des frühen 20. Jahrhunderts, ist die Netzestadt. Ihre Gründer werfen Netze aus, um die Zuwanderer einfangen und schröpfen zu können, letztlich leer ausgehend. In Koblenz sind moderne Ikonen der globalen Variante dieser Vernetzung aus dem Geist des Profits und der Gier zu besichtigen. Einige Protagonisten agieren in Attrappen, die Produkten mit Signets von Google, Apple, Facebook und Microsoft nachempfunden sind. Dieser Einfall trägt nicht das Ganze, funktioniert aber als eine beredte exemplarische Anspielung auf die Stoßrichtung des Konzepts dieser Inszenierung, sogar doppelbödig. Die neue Macht der globalen Internetkonzerne wird ja sogar im Theater selbst spürbar. Hier und da blinken Screens von Smartphones auf, die sekundenlang kontaktiert werden, während auf der Bühne bereits Jenny Hill ihren Oh! Moon of Alabama-Song zum Besten gibt. Split reality, erreichbar und gefragt sein – die neue Währung im digitalen Kapitalismus 2.0.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Die Koblenzer Inszenierung der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny verrät die Handschrift eines Theatermannes der Vollblutkategorie. Marcus Lobbes, seit zwei Jahrzehnten als Regisseur und Ausstatter im Sprech- und Musiktheater unterwegs, hat gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Pia Maria Mackert und der die Kostüme verantwortenden Miriam Grimm ein wahrhaft zirzensisches Panorama auf die Beine gestellt. Wie häufig im Theater an der Clemensstraße, sehr überzeugend 2011 in Matthias Schönfeldts Adaption von Glucks Alceste, spielt dabei der Faktor Video eine eminent wichtige Rolle. Erst vor wenigen Tagen hat sich Regisseur Dieter Dorn anlässlich seiner Erarbeitung der Traviata für die Berliner Staatsoper gegen „Mätzchen“ beim Stilmittel Video gewandt. Michael Deeg vermeidet bei seinen Ideen für das Koblenzer Haus solche  „Mätzchen“ weitgehend. Wenige Ausnahmen wie die Projektion züngelnder Flammen in die Uferbesiedlung des Mittelrheintals verwischen den Gesamteindruck kaum. Ein visuelles Kaleidoskop nimmt für sich ein, das genauso einprägsam mit dem schlichten binären Code der Digitalisierung zu arbeiten versteht wie mit der Bildgewalt, die die Imagination der Paradiesstadt von Brecht und Weill schafft und unterstützt. Da hat sich jemand ganz offensichtlich noch einmal genau mit den Bildern befasst, die der Maler Caspar Neher 1930 – welch ein Theaterluxus – zur Uraufführung der Oper für die 21 Musiknummern Weills erarbeitet hat.

Foto © Matthias Baus

Der Rausch an Bildgewalt und Farbenseligkeit wirkt augenscheinlich wie eine Einladung an die  Akteure, ganz besonders die Damen und Herren des Opernchors sowie die Herren des Extrachors, sich mit großer Empathie ihrer Aufgabe hinzugeben. Ein großes Kompliment ihrem Leiter Ulrich Zippelius. Gilt es doch, nicht allein Auf- und Abstiege in den Kulissen, den ständigen Wechsel von Kostümen und Masken zu organisieren, sondern auch die komplexen und bisweilen extremen Ansprüche zu erfüllen, die Weills Chorpassagen vorgeben. Werden so Auge und Ohr schlicht satt gemacht, findet Lobbes auch Antworten auf die leisen, die introvertierten Momente des Stücks. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt – die Konversation Jennys mit Jim Mahoney vor dessen Hinrichtung wird massiv reduziert, gefriert geradezu zu einem Gemälde der Selbstbesinnung, so dass eine stupende Wirkung entsteht.

Brecht verfasst sein Stück unter dem Eindruck des Zerfalls der Weimarer Republik und der Massenarbeitslosigkeit, die später dem NS-Regime den Weg bahnen wird. Weill, hier mit seinem Textautor eins, schreibt in seiner polytonalen Formsprache gegen einen Musikbetrieb an, der der Tollheit mehr Raum zu geben geneigt scheint als der Ernsthaftigkeit. Seine Aussage, bei Mahagonny handele es sich um einen „musikalischen Bilderbogen“, kann daher nicht frei von Koketterie verstanden werden. Weills Tonsprache verfolgt ja eher das Gegenteil, eine Ent-Bilderung, eine Deeskalation, eine Strategie, das Publikum daran zu hindern, sich mit den Protagonisten zu identifizieren.

Die so entstandene tückisch-bizarre Partitur, zumal unter dem innovativen Einsatz von Saxophonen, allerlei Schlagwerk, Klavier, Zither, Banjo, Bandoneon, meistert das Staatsorchester Rheinische Philharmonie unter seinem Musikalischen Leiter Leslie Suganandarajah mit Bravour. Dieser setzt auf Disziplin und Konzentration im Detail, wo diese gefordert sind, entfaltet Schwung und Raffinesse, wo die durch die große Bandbreite an Tanzrhythmen vom Foxtrott über den Shimmy bis hin zum Tango verlangt werden.

Das famos aufgelegte Sängerensemble verkraftet die eine oder andere saisonbedingte Indisposition und speziell den Ausfall von Hana Lee als Jenny ohne Einbrüche. Die für sie einspringende Sopranistin Marysol Schalit vom Theater Bremen interpretiert den schillernden Part der Hure Jenny, mal berührbares Wesen, dann kaltherziges Luder, mit der großen Kompetenz ihrer Affinität zu dieser Rolle. Monica Mascus ist als Leokadja Begbick fast schon eine Offenbarung. Ihr austarierter Mezzosopran lodert, schmeichelt oder schneidet ein, ganz wie es die Situation erfordert. Deniz Yilmaz verkörpert mit Kraft, Volumen und Expressivität seines Tenors die Partie des Jim Mahoney markant und eindringlich. Dem Einzigen in diesem Paradies des Nihilismus, der die Utopie des Menschlichen nicht verschleudern mag, gibt er Statur und Charakter. Sein „Duett“ mit Jenny, in Anlage, im Einsatz der Blasinstrumente und der musikalischen Textur an Bachs Passionen heranreichend, avanciert zu einem äußerst intensiven Auftritt, der beide gleichsam adelt. Schade nur, dass seine ausgeprägte Vorliebe für ein mehr oder weniger ständiges Tremolo ihm an der Aura nimmt, die er sich gerade aufgebaut hat.

Der Bariton Nico Wouterse ist als Dreieinigkeitsmoses überzeugend präsent. Mark Bowman-Hester gibt Fatty, den „Prokuristen“, mit geschmeidigem Tenor. Junho Lee ist ein beweglicher spielfreudiger Jack O’Brian. Christoph Plessers als Bill, genannt Sparbüchsenbill, Jongmin Lim als Joe, genannt Alaskawolfjoe, und Junho Lee in der Partie des Tobby Higgins komplettieren den vorzüglichen Gesamteindruck.

Das Publikum jubelt allen Mitwirkenden anhaltend und einhellig zu, als wünsche es der Produktion eine Theaterzukunft ohne Verfallsdatum. Mahagonny, das Versprechen der ewigen Depression, ist hier chancenlos.

Ralf Siepmann