Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Foto © Matthias Baus

Aktuelle Aufführungen

Endstation Trump

A STREETCAR NAMED DESIRE
(André Previn)

Besuch am
20. Mai 2016
(Premiere am 14. Mai 2016)

 

 

Theater Koblenz

Bis an den Orchestergraben reichend, die bescheidene Wohnung von Stanley und Stella Kowalski. Vorn die Küche, dahinter Flur und Schlafzimmer, mit Durchgang zum billigen Bad. Ausstatter Bodo Demelius hat das Mobiliar beklemmend realistisch auf den Zeitgeist in den Südstaaten der USA unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs ausgewählt. Zu sehen sind ein Küchenherd mit den obligaten Kochplatten, ein größerer Kühlschrank, ein schlichter Tisch mit Plastikdecke und vier Stühlen sowie seitlich ein Nierentisch, der von schlichten Polstermöbeln umstellt ist. Über der Szene verläuft ein Stück Straße, von der die Menschen jederzeit in die Behausung darunter schauen können. Ein Schild mit der Aufschrift „Bourbon Street“ illustriert den Ort des Geschehens. Tennessee Williams hat sein 1947 in New York uraufgeführtes Theaterstück A Streetcar Named Desire, auf dem André Previns Oper und Philip Littells Libretto beruhen, im französischen Viertel von New Orleans angesiedelt.

Drückend heiß ist es, wie die Besucher berichten, die sich nach und nach bei den Kowalskis einfinden. Bedrückend ist auch von Anfang dieser Aufführung im Theater Koblenz an die Atmosphäre, in der sich das Drama des Scheiterns der Blanche DuBois vollziehen wird. Es ist das Drama der weißen, in engen Normen verfangenen Mittelschicht der Vereinigten Staaten, das bekanntlich bis in unsere Gegenwart reicht. Wobei, irritierend genug, die Menschen ohne weiße Hautfarbe praktisch ausgespart bleiben, beim Theaterstück wie auch in der Oper. Mag das Thermometer draußen gefühlt 40 Grad oder auch mehr anzeigen – frappierend ist die Kälte zu erleben, mit der gleich zu Beginn Blanche, auf der Suche nach ihrer Schwester Stella, von Eunice Hubbell, der Nachbarin, begrüßt wird. An diesem sozialen Frost, der Empfindungs- und Kommunikationslosigkeit einer in Chauvinismus und Männlichkeitsattitüden stagnierenden Gesellschaft, wird letztlich auch die Außenseiterin Blanche zerbrechen und sich nach ihren Alkohol-Eskapaden in den Wahn flüchten. Nach mehreren Stufen des Scheiterns ist der einzige in dieser „feinen Familie“ zu Empathie, Phantasie und großen Gefühlen fähige Mensch um seine letzten Sehnsüchte gebracht. Endstation Psychiatrie, vulgo Realität.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Markus Dietze, der Hausherr, zeichnet in seiner Inszenierung Blanche und ihre Entourage der banalen Mediokrität mit den handwerklichen Qualitäten eines Reporters, der gerade einen Pulitzerpreis eingeheimst hat. Die Figuren bewegen sich realitäts- und schichtenaffin. Die latente Aggression Kowalskis, des amerikanischen Mannes, wie sie sich auch in der Waffenneurose der vielen von seiner Art und Provenienz manifestiert hat, ist Treiber wie Folie des Geschehens. Sie erzeugt eine ständige Anspannung zwischen den Polen Anteilnahme und Angst. Akkurat ist der Umgang mit Details, etwa dann, wenn Stanley sich im Unterhemd in die Pose des kleinbürgerlichen Machos wirft. Etwa dann, als Stella das Geburtstagsessen zubereitet und sich der Duft der gebratenen Spiegeleier im Auditorium auszubreiten scheint. So schafft Dietze die beeindruckende Milieustudie einer Gesellschaft im Zustand des grassierenden Identitäts- und Selbstwertverlusts, die heute erneut, knapp zwei Jahrzehnte nach der Uraufführung von Previns Musikdrama und bald ein Jahrzehnt nach dem Lehman-Desaster, die amerikanische Brisanz ausmacht. Endstation Trump, um es auf eine andere Formel zu bringen.

Foto © Matthias Baus

Woody Allen hat 2013 in seinem Film Blue Jasmine den Realitätsverlust und das verzweifelte Anklammern des „weißen Amerika“ an eine bröckelnde Fassade ähnlich packend geschildert, wie das dem Tandem von Librettist und Komponist in Endstation Sehnsucht gelungen ist. An Allens Hauptdarstellerin, die Blondine Cate Blanchett, erinnert ein Stück weit die Sopranistin Kerrie Sheppard als Blanche, die die Koblenzer Aufführung an der Spitze eines vorzüglichen Ensembles von Sängerdarstellern zu einem Ereignis werden lässt. Gegeben wird, zum Glück, das Drama in der Originalsprache, was der aus Großbritannien stammenden Sängerin sichtlich und manchmal auch überlaut hörbar entgegenkommt. Previn hat über seine Beziehung zu dieser Figur gesagt, sie sei, weil zum Scheitern verurteilt, verletzlich und deswegen auch so faszinierend. Und weiter angemerkt: „Sie hat mein uneingeschränktes Mitgefühl.“ Das Gefühl und der Respekt für diese Frau münden in zwei, drei opernangenäherte Auftritte wie die Arien I want magic oder I can smell the sea air, die Previns Komposition wie Leuchttürme in einem Meer überragen. Stimmlich und auch im Spiel kommt ihr Michael Mrosek in der wahrlich unangenehmen Rolle des Stanley Kowalski wohl noch am nächsten. Sein Bariton verströmt Kraft und zeichnet mit einer eleganten Spur der Selbstverachtung das Vulgäre, das die Figur verlangt. Irina Marinaş als Stella und Juraj Hollý als Harold Mitchell verkörpern ihren jeweiligen Part überzeugend. Die peripheren Rollen sind durchweg gut besetzt.

Previn, als Dirigent, Pianist und Komponist bekannt geworden, speist seine durchaus eigene Tonsprache aus unterschiedlichen Quellen, die er jeweils mit Bravour beherrscht: Filmmusik, Sinfonik mit einer an Puccini erinnernden „Wahrhaftigkeit“, Jazz. Wer sein erstes von bislang zwei Werken für das Musiktheater – wie wohl die meisten Besucher in Koblenz – zum ersten Mal erlebt, wird gehörig überrascht, positiv und angenehm. Getragen von exquisitem Material, das der Komponist gerade für die Streichergruppen in endlosen, auch melodischen Strömungen erdacht und geschrieben hat, wird der Besucher in den Strudel des Geschehens hineingesogen, aus dem es für ihn wie für Blanche kein Entrinnen zu geben scheint.

Das Staatsorchester Rheinische Philharmonie unter seinem Chef Enrico Delamboye, hinter einem Gaze-Vorhang auf der rückwärtigen Bühne platziert, breitet diesen exzessiven Klangteppich, in dem sich passagenweise auch Richard Strauss wiedergefunden hätte, großartig aus, mit feinem Gespür für das atmosphärisch Besondere, mit Sensibilität für die Erfordernisse des Sängerensembles.

Das Publikum im vielleicht zu 60 Prozent besetzten Auditorium beweist, dass es sich nicht nur unterhalten, sondern auch fordern lässt, sofern das gekonnt ist. Es schwingt sich zum Schluss zu anhaltendem, auch von Bravo-Rufen überhöhtem Beifall auf. Nach bald drei Stunden ergreift es wohl auch dankbar die Gelegenheit, sich aus der wachsenden Beklommenheit zu befreien, die dieses Drama unweigerlich entstehen lässt. Doch das ist mehr als trügerisch. „Wir müssen alle weitermachen“, sagt die naive Stella in der vierten Szene des Stücks, voll der Ahnung von dem Schrecklichen, was sich mit ihrer Ehe ereignet hat. Dieses „Weitermachen müssen“ gilt nicht zuletzt auch heute für die Menschen in den niedergehenden Metropolen wie Detroit oder eben auch New Orleans, zehn Jahre nach Katrina. Spätestens im November wird Neues hierzu zu erfahren sein.

Ralf Siepmann