Opernnetz

Kulturmagazin mit Charakter

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Alle Fotos © Thomas M. Jauk

Aktuelle Aufführungen

Teuflische Geschehnisse

DER FREISCHÜTZ
(Carl Maria von Weber)

Besuch am
12. Dezember 2015
(Premiere)

 

 

Staatsoper Hannover

Der Freischütz in Hannover könnte auch Der deutsche Samiel heißen. Der nämlich irrt, irrlichtert, räsoniert, und zweifelt, mal komisch, mal verzweifelt, mal ratlos durch die Handlung, die Personen des Stücks, das Publikum, und vor allem die deutsche Geschichte. Mal dirigiert er das Orchester, mal bestaunt er die Bilder großer deutscher Künstler und Philosophen, mal schreit er sich Verzweiflung und Angst aus dem Hals, dass gleich die Bombe platzt – aber keine Angst, nur die in seinem Kopf.

Das Ganze wird so spielgewaltig, schräg und mit hinzu gedichteten Worten von der Schauspielerin Eva Verena Müller als Teufel im Clownskostüm mit Segelohren und Knollennase und allerlei Kostümzutaten des deutschen Michels dargestellt, dass man ob dieses Spiels mit dem Zweifel und der Überforderung dieser unheimlichen Kreatur staunt und fasziniert ist.

POINTS OF HONOR
Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Dieser Clown ist die Hauptfigur des Abends, er ist auf einer Meta-Ebene immer Künstler, Politiker, Kind, Wahnsinniger und vieles mehr, was in uns steckt. Seine Zweifel, seine Überforderung, seine Angst und immer wieder seine Neugier tragen das Publikum durch das Stück. Fragt sich nur, welches Stück, denn die hinzu gedichteten Texte haben nur mäßig mit der Oper zu tun.

Foto © Thomas M. Jauk

Eine bis zur Pause nach dem zweiten Akt nicht enden wollende Großleinwand-Projektion und Videoschau von Voxi Bärenklau und Lennart Laberenz an verschiedenen Positionen der Bühne, oft auch auf dem das gesamte Bühnenportal einnehmenden Gazevorgang schmettert optisch alles nieder.

Es wird die Liste der Orte von Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime eingeblendet, es gibt allerlei Flüchtlingsschicksale und Kriegsbilder in Filmausschnitten zu sehen. Und es erscheint das Bild des kleinen, toten türkischen Jungen am griechischen Strand, das uns tief erschüttert hat. Aber keine Angst: alles rasend schnell und ohne erkennbaren Zusammenhang.

So im Irgendwie-keine Ahnung-weiß-auch-nicht-Stil, der uns aber mit gutem Gewissen das Theater verlassen lässt – haben Gutmenschen doch wieder am Elend der Welt und Deutschlands ach so betroffen teilgenommen.

Ein einziges Mal gelingt auch eine auf die Oper bezogene mit den Videoprojektionen kombinierte Handlung, wenn nämlich Samiel nach einer Alternative für Deutschland ruft – was gemerkt? – und zum Jägerchor die Pegida-Marschierer mit Plakaten dem Auditorium auf der Großbild-Gaze entgegen spazieren. Hier erfährt der auch textlich – sagen wir mal schillernde – Männerchor eine übel-zweideutig eindeutige, national-dumpfbackige Komponente.

Es sind diese Collagen, die uns unsere Verängstigung und Überforderung vergegenwärtigen sollen. Glaubt der Regisseur Kay Voges wirklich, der Zuschauer müsse nun unbedingt erst den Bildsalat dieser Produktion betrachten, um angesichts der Wirklichkeit und neuen Herausforderungen unseres Landes Empfindungen zu haben? Zum Denken und Reflektieren kommt man angesichts der in Bruchteilen vorbeifliegenden Bilder ohnehin nicht. Man gewinnt den Eindruck, das soll der Betrachter auch besser nicht – er wäre ja ohnehin überfordert. Ob dann wohl die deutsche Geschichte wieder von vorne beginnen könnte? Welches Bild von seinen Zuschauern und kritischen Betrachtern haben der Mann und sein Team? Sind die Deutschen wohl so ahnungslos, dass sie durch diese Scheinkonfrontation wachgerüttelt werden müssen? – Wo soll dieses Tal der Ahnungslosen in Deutschland sein – in Hannover? Oder vielleicht in Dortmund, wo der Regisseur Schauspielintendant ist?  

Das Personal auf der Bühne besteht in einer strammen, stiernackigen, mit einschlägigen Springerstiefeln nebst weißen Schnürbändern ausgestatteten Männergruppe, Nutten, Krankenschwestern und Systemträgern wie Polizisten und Militärs in Fantasieuniformen, die mal in bunten Farben, schwarz oder in Sado-Maso-Variante an das so genannte Dritte Reich gemahnen. Sieht so das wahre Deutschland aus? Mann, ist das aufregend – und so sexy und so deutsch! 

Max leidet unter Kastrationsängsten: in einer Video-Einspielung wird ihm in eifriger Aktion der Krankenschwestern der Penis abgeschnitten. Das viele Blut dokumentiert, dass die erektile Dysfunktion jedenfalls nicht durch Blutmangel hervorgerufen wird. Eine Weile wird der Sänger durch einen blutverschmierten Doppelgänger auf der Bühne begleitet. Im weiteren Verlauf der Handlung mampft er schon mal eine Banane, schreit gelegentlich „Penis“ und hat plötzlich ein Maschinengewehr nicht im Griff, das dann in die Menge schießt.

Agathe hat Entjungferungsängste. Sie liegt in einer übergroßen Filmprojektion während ihrer Arie im zweiten Akt auf einem Seziertisch in der gekachelten Ungemütlichkeit einer klinischen Pathologie, zunächst mit dem verbotenen, angebissenen Apfel, bevor sie in einer langen Zeitlupeneinspielung wieder und wieder kunstvoll in eine grau-grüne Masse, die auf dem Boden liegt, fällt und sich darin wälzt. Es wird nicht klar, ob es sich um den Urschleim oder Exkremente handelt.

Kaspar mit Djihadisten-Bart wandelt tiefsinnig durch die Handlung oder sitzt beobachtend im Hintergrund des Geschehens. Wie immer stimmlich hervorragend gesungen von Tobias Schabel. 

Diese Interpretationsansätze und erst recht die Verlegung der Handlung in die Gegenwart sind nicht neu, die Figuren jedoch auf diese Elemente zu reduzieren, bringt nichts. Es mag vor Jahrzehnten interessant und wichtig gewesen sein, die Opernregie als Spätzünder nach dem viel früher revolutionierten Schauspiel aus ihrem antiquierten Format herauszuboxen. Da kam es auch manchmal tatsächlich nicht in gleicher Weise auf den Gehalt, sondern den Durchbruch einer modernen Sichtweise an. Heute sind wir ein paar Jahre weiter. Und Hannover war in der Entwicklung immer weit vorne dran.

Die weiteren Mitglieder des Leitungsteams mit den Kostümen von Mona Ulrich und dem Licht von Susanne Reinhardt ziehen am gleichen Strang, und immerhin hat die Aufführung technisch mit den Lichtwechseln und den vielen Einspielungen der Videoformate funktioniert.

Den Sängern gebührt besondere Achtung, dass sie unter den Bildergewittern überhaupt in der Lage sind zu singen. Allerdings achtet man unter der Wirkung dieser Bilder kaum auf die einzelnen Darsteller. Max, gesungen von Eric Laporte, Agathe von Dorothea Maria Marx – eingesprungen für die erkrankte Kelly God – und Ännchen der Ania Vergry werden selbst unter den geschilderten schwierigen Umständen ihren Rollen voll gerecht.

Der Ottokar von Stefan Adam, Kuno von Michael Dries und der Eremit, dargestellt von Shavleg Armasi, sowie der Kilian von Byung Kweon Jun runden das Sängerensemble auf angemessenem Niveau ab.  

Chor und Extrachor unter der Leitung von Dan Ratiu und Orchester unter Kamen Kamensek zeigen durchweg gute Leistungen.

Applaus und nicht wenige Bravos für alle Beteiligten des musikalischen Teils, Buhgewitter für das Leitungsteam. Schon während der Aufführung hatte es vereinzelte Zwischenrufe wie „Wir haben genug“ und „Aufhören!“ gegeben.

Auch Karen Kamensek, Dirigentin der Produktion und Generalmusikdirektorin des Hauses, meldet sich während der Aufführung zu Wort und hält bei der Einblendung eines Interviewausschnitts mit Christian Thielemann, der sich zum deutschen Volkslied äußert, ein Schild mit der Aufschrift „Ich distanziere mich von dieser Szene“ hoch. Warum ausgerechnet gerade bei diesem sturzbildartig eingeblendeten Filmausschnitt und nicht zum Beispiel beim Blutbad der Kastration oder der Schlammszene Agathes, bleibt dem Zuschauer allerdings verborgen. 

Das Opernhaus Hannover ist eines der kreativsten und wagemutigsten Häuser im Lande. Es riskiert notgedrungen, dass eine Inszenierung wie diese komplett an die Wand knallt. Das gehört dazu und verdient Respekt, um nicht im Biedermeier gängiger und beliebiger Produktionen für die Reisebusgruppen des Umlandes zu versauern. Man möchte aber schon einmal dabei sein, wenn ausgerechnet ein solches Konzept der in neuen Sichtweisen erfahrenen künstlerischen Leitung des Hauses verkauft wird – eine stramme Leistung angesichts eines so verunglückten Abends – das hat Samiel nun nicht im Griff gehabt, oder gerade doch.

Achim Dombrowski